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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Gothische Architektur. Dom von Siena.
schwarzen Marmors (die in dem später erbauten Chor weislich ein-
geschränkt ist) die architektonische Wirkung theilweise auf; die An-
wendung der Papstköpfe als eine Art von Consolen unter dem Ge-
simse war vielleicht eine -- allerdings übel getroffene -- Aushülfe, als
man sah, dass neben dem durchgehenden Schwarz und Weiss nur
das allerderbste Gesimse ins Auge fallen würde. An sich betrachtet
sind aber die Pfeiler mit ihren Halbsäulen (XIII. Jahrhundert?) gut
gegliedert und leicht, und der Raum schön eingetheilt, mit Ausnahme
der unerklärlichen Kuppel.

Aber an diesem Bau machte Siena nur sein Lehrstück. Ganz an-
ders gedachte man die gewonnenen Erfahrungen zu benützen, als im
Jahr 1321 der neue Anbau begonnen wurde, ein colossaler dreischiffi-
ger Langbau, dem das Bisherige nur als Querschiff dienen sollte. Die-
ser neue Dom 1), angefangen vom Maestro Lando, wäre bei weitem

1) Rumohr (Ital. Forschungen II, S. 123 ff.) ist bei diesem Anlass in einen Irr-
thum gerathen, vor welchem ihn gerade die von ihm entdeckten und mitge-
theilten Urkunden am ehesten hätten schützen müssen. Derjenige Neubau
(novum opus), von welchem schon im XIII. Jahrhundert die Rede ist, war
nicht der neue Dom, sondern, wie ich glaube, der Chorbau des alten; wahr-
scheinlich war derselbe bisher dem Chorbau von Pisa ähnlich und wurde im
XIII. Jahrhundert durch den jetzigen ersetzt (wobei dem Agostino und Agnolo
von Siena das Anrecht auf die Hinterfassade S. Giovanni ungeschmälert blei-
ben mag). Von diesem Chorbau gilt das Protocoll vom Jahr 1260, a. a. O.
S. 128. Dagegen ist in dem Protocoll vom Jahr 1321, a. a. O. S. 129 f.
offenbar der neue Dom gemeint: "dessen Fundamente jetzt eben gelegt wer-
den" und der somit unmöglich dasjenige Gebäude sein kann, über dessen ge-
rissene Wölbungen im Jahr 1260 Rath gehalten wurde. Weiter ist von den
"morae" dieses neuen Domes die Rede, was R. durch "Pfeiler" übersetzt,
allein es sind die Strebepfeiler der Substructionen gegen den Palazzo del
magnifico hin gemeint; sie senkten sich bereits und man fand sie nicht dick
genug. Einen Augenblick war Muth und Lust zum Weiterbau völlig verlo-
ren. Allein schon in dem Protocoll von 1322, a. a. O. S. 133, trägt eine
grosse und frische Begeisterung den Sieg davon; man thut das Gelübde, nicht
nur den neuen Dom zu bauen, sondern auch den alten damit in Harmonie zu
setzen. In den nächstfolgenden Jahren muss dann dasjenige Gebäude ent-
standen sein, dessen unfertige Ruine wir bewundern. Die 1339 beschlossene
Verlängerung der navis ecclesiae gegen die Piazza Manetti hin (a. a. O. S. 135)
bezieht sich wahrscheinlich wieder auf den alten Dom; es heisst: de novo fiat et

Gothische Architektur. Dom von Siena.
schwarzen Marmors (die in dem später erbauten Chor weislich ein-
geschränkt ist) die architektonische Wirkung theilweise auf; die An-
wendung der Papstköpfe als eine Art von Consolen unter dem Ge-
simse war vielleicht eine — allerdings übel getroffene — Aushülfe, als
man sah, dass neben dem durchgehenden Schwarz und Weiss nur
das allerderbste Gesimse ins Auge fallen würde. An sich betrachtet
sind aber die Pfeiler mit ihren Halbsäulen (XIII. Jahrhundert?) gut
gegliedert und leicht, und der Raum schön eingetheilt, mit Ausnahme
der unerklärlichen Kuppel.

Aber an diesem Bau machte Siena nur sein Lehrstück. Ganz an-
ders gedachte man die gewonnenen Erfahrungen zu benützen, als im
Jahr 1321 der neue Anbau begonnen wurde, ein colossaler dreischiffi-
ger Langbau, dem das Bisherige nur als Querschiff dienen sollte. Die-
ser neue Dom 1), angefangen vom Maestro Lando, wäre bei weitem

1) Rumohr (Ital. Forschungen II, S. 123 ff.) ist bei diesem Anlass in einen Irr-
thum gerathen, vor welchem ihn gerade die von ihm entdeckten und mitge-
theilten Urkunden am ehesten hätten schützen müssen. Derjenige Neubau
(novum opus), von welchem schon im XIII. Jahrhundert die Rede ist, war
nicht der neue Dom, sondern, wie ich glaube, der Chorbau des alten; wahr-
scheinlich war derselbe bisher dem Chorbau von Pisa ähnlich und wurde im
XIII. Jahrhundert durch den jetzigen ersetzt (wobei dem Agostino und Agnolo
von Siena das Anrecht auf die Hinterfassade S. Giovanni ungeschmälert blei-
ben mag). Von diesem Chorbau gilt das Protocoll vom Jahr 1260, a. a. O.
S. 128. Dagegen ist in dem Protocoll vom Jahr 1321, a. a. O. S. 129 f.
offenbar der neue Dom gemeint: „dessen Fundamente jetzt eben gelegt wer-
den“ und der somit unmöglich dasjenige Gebäude sein kann, über dessen ge-
rissene Wölbungen im Jahr 1260 Rath gehalten wurde. Weiter ist von den
„morae“ dieses neuen Domes die Rede, was R. durch „Pfeiler“ übersetzt,
allein es sind die Strebepfeiler der Substructionen gegen den Palazzo del
magnifico hin gemeint; sie senkten sich bereits und man fand sie nicht dick
genug. Einen Augenblick war Muth und Lust zum Weiterbau völlig verlo-
ren. Allein schon in dem Protocoll von 1322, a. a. O. S. 133, trägt eine
grosse und frische Begeisterung den Sieg davon; man thut das Gelübde, nicht
nur den neuen Dom zu bauen, sondern auch den alten damit in Harmonie zu
setzen. In den nächstfolgenden Jahren muss dann dasjenige Gebäude ent-
standen sein, dessen unfertige Ruine wir bewundern. Die 1339 beschlossene
Verlängerung der navis ecclesiæ gegen die Piazza Manetti hin (a. a. O. S. 135)
bezieht sich wahrscheinlich wieder auf den alten Dom; es heisst: de novo fiat et
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[134/0156] Gothische Architektur. Dom von Siena. schwarzen Marmors (die in dem später erbauten Chor weislich ein- geschränkt ist) die architektonische Wirkung theilweise auf; die An- wendung der Papstköpfe als eine Art von Consolen unter dem Ge- simse war vielleicht eine — allerdings übel getroffene — Aushülfe, als man sah, dass neben dem durchgehenden Schwarz und Weiss nur das allerderbste Gesimse ins Auge fallen würde. An sich betrachtet sind aber die Pfeiler mit ihren Halbsäulen (XIII. Jahrhundert?) gut gegliedert und leicht, und der Raum schön eingetheilt, mit Ausnahme der unerklärlichen Kuppel. Aber an diesem Bau machte Siena nur sein Lehrstück. Ganz an- ders gedachte man die gewonnenen Erfahrungen zu benützen, als im Jahr 1321 der neue Anbau begonnen wurde, ein colossaler dreischiffi- ger Langbau, dem das Bisherige nur als Querschiff dienen sollte. Die- ser neue Dom 1), angefangen vom Maestro Lando, wäre bei weitem 1) Rumohr (Ital. Forschungen II, S. 123 ff.) ist bei diesem Anlass in einen Irr- thum gerathen, vor welchem ihn gerade die von ihm entdeckten und mitge- theilten Urkunden am ehesten hätten schützen müssen. Derjenige Neubau (novum opus), von welchem schon im XIII. Jahrhundert die Rede ist, war nicht der neue Dom, sondern, wie ich glaube, der Chorbau des alten; wahr- scheinlich war derselbe bisher dem Chorbau von Pisa ähnlich und wurde im XIII. Jahrhundert durch den jetzigen ersetzt (wobei dem Agostino und Agnolo von Siena das Anrecht auf die Hinterfassade S. Giovanni ungeschmälert blei- ben mag). Von diesem Chorbau gilt das Protocoll vom Jahr 1260, a. a. O. S. 128. Dagegen ist in dem Protocoll vom Jahr 1321, a. a. O. S. 129 f. offenbar der neue Dom gemeint: „dessen Fundamente jetzt eben gelegt wer- den“ und der somit unmöglich dasjenige Gebäude sein kann, über dessen ge- rissene Wölbungen im Jahr 1260 Rath gehalten wurde. Weiter ist von den „morae“ dieses neuen Domes die Rede, was R. durch „Pfeiler“ übersetzt, allein es sind die Strebepfeiler der Substructionen gegen den Palazzo del magnifico hin gemeint; sie senkten sich bereits und man fand sie nicht dick genug. Einen Augenblick war Muth und Lust zum Weiterbau völlig verlo- ren. Allein schon in dem Protocoll von 1322, a. a. O. S. 133, trägt eine grosse und frische Begeisterung den Sieg davon; man thut das Gelübde, nicht nur den neuen Dom zu bauen, sondern auch den alten damit in Harmonie zu setzen. In den nächstfolgenden Jahren muss dann dasjenige Gebäude ent- standen sein, dessen unfertige Ruine wir bewundern. Die 1339 beschlossene Verlängerung der navis ecclesiæ gegen die Piazza Manetti hin (a. a. O. S. 135) bezieht sich wahrscheinlich wieder auf den alten Dom; es heisst: de novo fiat et

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/156>, abgerufen am 02.05.2024.