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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
der Idee mit in Kauf nehmen1. Er muß fehlbare Menschen zur
unbestreitbaren Autorität machen.

Durchaus richtig ist es, zu verlangen, daß hinter der Rechts-
ordnung die Macht stehe; sie gehört notwendig dazu; und ebenso,
daß nur eine, die machthabende Ordnung gelte; aber daß die
mächtige Ordnung auch immer die richtige sei, dafür besteht
leider gar keine Gewähr.

Mancher wird sich wie Pythagoras2beruhigen mit dem
Troste: besser eine mangelhafte (geltende) Ordnung als gar
keine3; aber besser als die mangelhafte wäre eben doch die
gute4. Wenn die Macht ein von außen kommender Zufall wäre
(wie es mitunter für die Angehörigen eines Staatsverbandes der
unwiderstehliche Zwang eines fremden Staates ist), so wäre diese
Ergebung vernünftig. Aber wenn unter den Angehörigen eines
Volkes gestritten wird, welches ihr Grundgesetz sein soll, und diese
Rechtsfrage danach entschieden werden soll, welcher Partei (nach
numerischer, physischer oder geistiger Überlegenheit) die Macht
zusteht, so ist das offenbar keine rationelle Lösung, sondern ein
Notbehelf. Dem Historiker mag vielleicht die Feststellung ge-
nügen, daß eben jeweilen die Macht entschieden hat5; dem Dog-
matiker genügt sie nicht. Von Rechts wegen sollte offenbar der
Wert der Verfassung darüber entscheiden, ob ihr die Unterstützung,
die sie braucht, geliehen werden und ob sie also gelten soll; nicht
kann umgekehrt die tatsächlich gewährte Unterstützung darüber
entscheiden, ob sie zu gelten verdiene. Daß recht viele eine Ver-

1 Schuppe, Gewohnheitsrecht 93.
2 meden einai meizon kakon anarkhias. Hildebrand, Geschichte und
System der Rechts- und Staatsphilosophie I 56; Ihering, Zweck im Recht,
3. A., I 313.
3 Schuppe, a. a. O. 66, neigt dahin.
4 Weshalb z. B. Duguit, L'Etat, le droit objectif I 259, auch sagt:
Die Befehlsgewalt der Behörden sei nur berechtigt, sofern sie dem Recht,
der regle de droit, diene. Aber wer soll darüber entscheiden? Man hat
ihm mit Recht ein Wort Juriaus entgegengehalten: "Il doit y avoir dans
chaque Etat une autorite qui n'a pas besoin d'avoir raison pour valider
ses actes." Vgl. Carre de Malberg I 204, 210.
5 Wie auch viele Theoretiker verweisen auf die Geschichte oder die
Philosophie der Geschichte; letzteres z. B. Schuppe a. a. O. 67; aber das
ist weder eine geschichtliche noch eine geschichtsphilosophische, sondern
eine rechtsphilosophische Frage. Hic Rhodus, hic salta.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
der Idee mit in Kauf nehmen1. Er muß fehlbare Menschen zur
unbestreitbaren Autorität machen.

Durchaus richtig ist es, zu verlangen, daß hinter der Rechts-
ordnung die Macht stehe; sie gehört notwendig dazu; und ebenso,
daß nur eine, die machthabende Ordnung gelte; aber daß die
mächtige Ordnung auch immer die richtige sei, dafür besteht
leider gar keine Gewähr.

Mancher wird sich wie Pythagoras2beruhigen mit dem
Troste: besser eine mangelhafte (geltende) Ordnung als gar
keine3; aber besser als die mangelhafte wäre eben doch die
gute4. Wenn die Macht ein von außen kommender Zufall wäre
(wie es mitunter für die Angehörigen eines Staatsverbandes der
unwiderstehliche Zwang eines fremden Staates ist), so wäre diese
Ergebung vernünftig. Aber wenn unter den Angehörigen eines
Volkes gestritten wird, welches ihr Grundgesetz sein soll, und diese
Rechtsfrage danach entschieden werden soll, welcher Partei (nach
numerischer, physischer oder geistiger Überlegenheit) die Macht
zusteht, so ist das offenbar keine rationelle Lösung, sondern ein
Notbehelf. Dem Historiker mag vielleicht die Feststellung ge-
nügen, daß eben jeweilen die Macht entschieden hat5; dem Dog-
matiker genügt sie nicht. Von Rechts wegen sollte offenbar der
Wert der Verfassung darüber entscheiden, ob ihr die Unterstützung,
die sie braucht, geliehen werden und ob sie also gelten soll; nicht
kann umgekehrt die tatsächlich gewährte Unterstützung darüber
entscheiden, ob sie zu gelten verdiene. Daß recht viele eine Ver-

1 Schuppe, Gewohnheitsrecht 93.
2 μηδὲν εἶναι μεῖζον κακὸν ἀναρχίας. Hildebrand, Geschichte und
System der Rechts- und Staatsphilosophie I 56; Ihering, Zweck im Recht,
3. A., I 313.
3 Schuppe, a. a. O. 66, neigt dahin.
4 Weshalb z. B. Duguit, L'Etat, le droit objectif I 259, auch sagt:
Die Befehlsgewalt der Behörden sei nur berechtigt, sofern sie dem Recht,
der règle de droit, diene. Aber wer soll darüber entscheiden? Man hat
ihm mit Recht ein Wort Juriaus entgegengehalten: „Il doit y avoir dans
chaque Etat une autorité qui n'a pas besoin d'avoir raison pour valider
ses actes.“ Vgl. Carré de Malberg I 204, 210.
5 Wie auch viele Theoretiker verweisen auf die Geschichte oder die
Philosophie der Geschichte; letzteres z. B. Schuppe a. a. O. 67; aber das
ist weder eine geschichtliche noch eine geschichtsphilosophische, sondern
eine rechtsphilosophische Frage. Hic Rhodus, hic salta.
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[186/0201] II. Teil. Die staatliche Verfassung. der Idee mit in Kauf nehmen 1. Er muß fehlbare Menschen zur unbestreitbaren Autorität machen. Durchaus richtig ist es, zu verlangen, daß hinter der Rechts- ordnung die Macht stehe; sie gehört notwendig dazu; und ebenso, daß nur eine, die machthabende Ordnung gelte; aber daß die mächtige Ordnung auch immer die richtige sei, dafür besteht leider gar keine Gewähr. Mancher wird sich wie Pythagoras 2beruhigen mit dem Troste: besser eine mangelhafte (geltende) Ordnung als gar keine 3; aber besser als die mangelhafte wäre eben doch die gute 4. Wenn die Macht ein von außen kommender Zufall wäre (wie es mitunter für die Angehörigen eines Staatsverbandes der unwiderstehliche Zwang eines fremden Staates ist), so wäre diese Ergebung vernünftig. Aber wenn unter den Angehörigen eines Volkes gestritten wird, welches ihr Grundgesetz sein soll, und diese Rechtsfrage danach entschieden werden soll, welcher Partei (nach numerischer, physischer oder geistiger Überlegenheit) die Macht zusteht, so ist das offenbar keine rationelle Lösung, sondern ein Notbehelf. Dem Historiker mag vielleicht die Feststellung ge- nügen, daß eben jeweilen die Macht entschieden hat 5; dem Dog- matiker genügt sie nicht. Von Rechts wegen sollte offenbar der Wert der Verfassung darüber entscheiden, ob ihr die Unterstützung, die sie braucht, geliehen werden und ob sie also gelten soll; nicht kann umgekehrt die tatsächlich gewährte Unterstützung darüber entscheiden, ob sie zu gelten verdiene. Daß recht viele eine Ver- 1 Schuppe, Gewohnheitsrecht 93. 2 μηδὲν εἶναι μεῖζον κακὸν ἀναρχίας. Hildebrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie I 56; Ihering, Zweck im Recht, 3. A., I 313. 3 Schuppe, a. a. O. 66, neigt dahin. 4 Weshalb z. B. Duguit, L'Etat, le droit objectif I 259, auch sagt: Die Befehlsgewalt der Behörden sei nur berechtigt, sofern sie dem Recht, der règle de droit, diene. Aber wer soll darüber entscheiden? Man hat ihm mit Recht ein Wort Juriaus entgegengehalten: „Il doit y avoir dans chaque Etat une autorité qui n'a pas besoin d'avoir raison pour valider ses actes.“ Vgl. Carré de Malberg I 204, 210. 5 Wie auch viele Theoretiker verweisen auf die Geschichte oder die Philosophie der Geschichte; letzteres z. B. Schuppe a. a. O. 67; aber das ist weder eine geschichtliche noch eine geschichtsphilosophische, sondern eine rechtsphilosophische Frage. Hic Rhodus, hic salta.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/201>, abgerufen am 29.04.2024.