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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Geltung des Rechts.

Irrational ist aber noch ein anderes Moment. Auch wenn es
ausgemacht ist, daß die größere Macht oder Zahl entscheiden soll,
so verbürgt a priori nichts, daß in einer größeren Gruppe ein
solch übermächtiger Kern sich bilde. In einer Volksgemeinschaft,
die sich über eine neue Verfassung schlüssig zu machen hat, können
die einen republikanisch, die anderen monarchisch und die dritten
aristokratisch gesinnt sein, zu gleich starken Parteien. Wer soll
da nachgeben und wem soll nachgegeben werden? Sollen die
Versöhnlichen den Eigensinnigen, die Gescheiteren den weniger
Gescheiten nachgeben? Ein Grund dafür läßt sich kaum an-
führen; denn wenn es nach Gründen ginge, so fiele die Starrköpfig-
keit nicht ins Gewicht und die Dummheit noch weniger. Aber
Gründe reichen eben hier nicht mehr aus. Der Einzelne muß
mitunter auf die Starrköpfigkeit oder die Beschränktheit der
Gegner, die er nicht zu überzeugen vermag, Rücksicht nehmen;
aber das ist kein Grundsatz; denn wenn man den härteren Köpfen
ein besseres Recht einräumen wollte, wer wollte da noch nachgiebig
sein? Das einzige, was sich etwa sagen läßt, ist, daß alle sich
bestreben sollten, zu einer Verständigung zu gelangen, da es noch
unvernünftiger wäre, gar keine Verfassung zu haben als eine
mangelhafte (sofern die Mängel erträglich sind). Sobald man
aber vom inneren Wert der Vorschläge absieht, wie wir hier tun
müssen, läßt sich nicht vernunftgemäß, nach Grundsätzen ent-
scheiden, wer nachgeben muß und wieviel. Man kann auch nicht
allgemein fordern, daß jede Partei der anderen gleichweit ent-
gegenkomme, wechselweise; denn die Zugeständnisse lassen sich
nicht messen, sondern nur bewerten (wofür ja eben ein von allen
anerkannter Maßstab fehlt), und ob sich auf der mittleren Linie
dreier verschiedener Vorschläge ein vernünftiger vierter befinde,
ist nicht von vornherein ausgemacht.
Und doch besteht die Pflicht, zu einem gemeinsamen positiven
Entschluß zu gelangen. Man kann diese Pflicht die politische

Lehnt er sich dagegen gegen die Anwendung des Gesetzes nicht grundsätz-
lich auf, sondern nur so wie sie vorliegt, nämlich weil die Anwendung nicht
gesetzmäßig ist, so berührt das ein anderes Problem: das Problem, ob gesetz-
widrige Rechtsakte (der Behörden) verbindlich sind oder nicht, also das
Problem der Rechtsanwendung, die Anwendung gültigen Rechts, nicht
das Problem der Gültigkeit des Rechts. Vgl. unten S. 267 ff.
Die Geltung des Rechts.

Irrational ist aber noch ein anderes Moment. Auch wenn es
ausgemacht ist, daß die größere Macht oder Zahl entscheiden soll,
so verbürgt a priori nichts, daß in einer größeren Gruppe ein
solch übermächtiger Kern sich bilde. In einer Volksgemeinschaft,
die sich über eine neue Verfassung schlüssig zu machen hat, können
die einen republikanisch, die anderen monarchisch und die dritten
aristokratisch gesinnt sein, zu gleich starken Parteien. Wer soll
da nachgeben und wem soll nachgegeben werden? Sollen die
Versöhnlichen den Eigensinnigen, die Gescheiteren den weniger
Gescheiten nachgeben? Ein Grund dafür läßt sich kaum an-
führen; denn wenn es nach Gründen ginge, so fiele die Starrköpfig-
keit nicht ins Gewicht und die Dummheit noch weniger. Aber
Gründe reichen eben hier nicht mehr aus. Der Einzelne muß
mitunter auf die Starrköpfigkeit oder die Beschränktheit der
Gegner, die er nicht zu überzeugen vermag, Rücksicht nehmen;
aber das ist kein Grundsatz; denn wenn man den härteren Köpfen
ein besseres Recht einräumen wollte, wer wollte da noch nachgiebig
sein? Das einzige, was sich etwa sagen läßt, ist, daß alle sich
bestreben sollten, zu einer Verständigung zu gelangen, da es noch
unvernünftiger wäre, gar keine Verfassung zu haben als eine
mangelhafte (sofern die Mängel erträglich sind). Sobald man
aber vom inneren Wert der Vorschläge absieht, wie wir hier tun
müssen, läßt sich nicht vernunftgemäß, nach Grundsätzen ent-
scheiden, wer nachgeben muß und wieviel. Man kann auch nicht
allgemein fordern, daß jede Partei der anderen gleichweit ent-
gegenkomme, wechselweise; denn die Zugeständnisse lassen sich
nicht messen, sondern nur bewerten (wofür ja eben ein von allen
anerkannter Maßstab fehlt), und ob sich auf der mittleren Linie
dreier verschiedener Vorschläge ein vernünftiger vierter befinde,
ist nicht von vornherein ausgemacht.
Und doch besteht die Pflicht, zu einem gemeinsamen positiven
Entschluß zu gelangen. Man kann diese Pflicht die politische

Lehnt er sich dagegen gegen die Anwendung des Gesetzes nicht grundsätz-
lich auf, sondern nur so wie sie vorliegt, nämlich weil die Anwendung nicht
gesetzmäßig ist, so berührt das ein anderes Problem: das Problem, ob gesetz-
widrige Rechtsakte (der Behörden) verbindlich sind oder nicht, also das
Problem der Rechtsanwendung, die Anwendung gültigen Rechts, nicht
das Problem der Gültigkeit des Rechts. Vgl. unten S. 267 ff.
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[189/0204] Die Geltung des Rechts. Irrational ist aber noch ein anderes Moment. Auch wenn es ausgemacht ist, daß die größere Macht oder Zahl entscheiden soll, so verbürgt a priori nichts, daß in einer größeren Gruppe ein solch übermächtiger Kern sich bilde. In einer Volksgemeinschaft, die sich über eine neue Verfassung schlüssig zu machen hat, können die einen republikanisch, die anderen monarchisch und die dritten aristokratisch gesinnt sein, zu gleich starken Parteien. Wer soll da nachgeben und wem soll nachgegeben werden? Sollen die Versöhnlichen den Eigensinnigen, die Gescheiteren den weniger Gescheiten nachgeben? Ein Grund dafür läßt sich kaum an- führen; denn wenn es nach Gründen ginge, so fiele die Starrköpfig- keit nicht ins Gewicht und die Dummheit noch weniger. Aber Gründe reichen eben hier nicht mehr aus. Der Einzelne muß mitunter auf die Starrköpfigkeit oder die Beschränktheit der Gegner, die er nicht zu überzeugen vermag, Rücksicht nehmen; aber das ist kein Grundsatz; denn wenn man den härteren Köpfen ein besseres Recht einräumen wollte, wer wollte da noch nachgiebig sein? Das einzige, was sich etwa sagen läßt, ist, daß alle sich bestreben sollten, zu einer Verständigung zu gelangen, da es noch unvernünftiger wäre, gar keine Verfassung zu haben als eine mangelhafte (sofern die Mängel erträglich sind). Sobald man aber vom inneren Wert der Vorschläge absieht, wie wir hier tun müssen, läßt sich nicht vernunftgemäß, nach Grundsätzen ent- scheiden, wer nachgeben muß und wieviel. Man kann auch nicht allgemein fordern, daß jede Partei der anderen gleichweit ent- gegenkomme, wechselweise; denn die Zugeständnisse lassen sich nicht messen, sondern nur bewerten (wofür ja eben ein von allen anerkannter Maßstab fehlt), und ob sich auf der mittleren Linie dreier verschiedener Vorschläge ein vernünftiger vierter befinde, ist nicht von vornherein ausgemacht. Und doch besteht die Pflicht, zu einem gemeinsamen positiven Entschluß zu gelangen. Man kann diese Pflicht die politische 4 4 Lehnt er sich dagegen gegen die Anwendung des Gesetzes nicht grundsätz- lich auf, sondern nur so wie sie vorliegt, nämlich weil die Anwendung nicht gesetzmäßig ist, so berührt das ein anderes Problem: das Problem, ob gesetz- widrige Rechtsakte (der Behörden) verbindlich sind oder nicht, also das Problem der Rechtsanwendung, die Anwendung gültigen Rechts, nicht das Problem der Gültigkeit des Rechts. Vgl. unten S. 267 ff.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/204>, abgerufen am 29.04.2024.