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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Geltung des Rechts.
schaft zu leben, sich die rechtliche Pflicht ergebe, einem (be-
stimmten) Staat anzugehören; aber tatsächlich kommen manche
Theorien auf diese Behauptung hinaus1.

Kelsen (Die Lehre von der Souveränität (1920) 96, All-
gemein. Staatslehre 18) glaubt, die Verbindlichkeit der geltenden
(d. h. nach ihm: der in der Regel wirksamen) Ordnung aus einem
anderen Prinzip ableiten zu können, nämlich aus dem "auf das
Gebiet der Wertung ausgedehnten Grundsatz der Erkenntnis-
ökonomie". Entsprechend diesem denkökonomischen Gesetze
Machs (auf das Normative übertragen) müßte nämlich diejenige
Rechtsordnung als die geltende bezeichnet werden, nach der
möglichst viel (gegebene) Tatbestände als rechtmäßig ("norment-
sprechend, somit als relativ wertvoll") bezeichnet werden könnten.
Allein die Analogie mit den Gesetzen des theoretischen Denkens
trifft nicht zu2. Hier stellt sich dem Denkenden die Aufgabe, ge-
gebene Tatsachen möglichst einfach zu erklären; im Gebiete des
Rechts aber stellt sich dem Theoretiker nicht die Aufgabe, mög-
lichst viel Tatbestände als normentsprechend zu erweisen (wie
sollte diese Zahl ermittelt werden? Tatbestände gibt es nur in
Beziehung auf einen gegebenen Rechtssatz!), sondern die Norm
zu finden, nach der die "Tatbestände" auf ihre Rechtsmäßigkeit
zu beurteilen sind; die Norm kann sich nicht richten nach den
"Tatbeständen", d. h. wohl nach den Maximen, die tatsächlich
geübt werden, sondern umgekehrt: nach der anderweitig fest-
gestellten Norm beurteilt sich, welche Tatbestände, es mögen
viel oder wenig sein, normentsprechend, relativ wertvoll, oder
einfacher: rechtmäßig sind. Wer nach der Geltung fragt, fragt
ja eben, was gesollt werde3; die Spannung zwischen Sein und

1 Der Gedanke, daß der Staat ein Postulat der praktischen Vernunft
sei, gehört nicht hierher; denn rechtliche Erwägungen sind auch Erwägungen
der praktischen Vernunft, nicht nur moralische. G. Jellinek, Allgemeine
Staatslehre 219; E. Huber, Recht und Rechtsverwirklichung (1921) 34 ff.
2 Vgl. Auch Roffenstein, Kelsens Staatsbegriff und die Soziologie,
in Ztschr. für öffentliches Recht IV 554; Verdroß, Die Einheit des recht-
liches Weltbildes 79 ff. Darin liegt der Fehler der These Sanders, Staat
und Recht I (1922).
3 Oder was sich ein korrekt denkender Mensch als verbindlich zu
denken hat, wie Zitelmann a. a. O. S. 460 bemerkt; aber nicht ein logisch
korrekt deduzierender, sondern ein vernünftig urteilender Mensch.

Die Geltung des Rechts.
schaft zu leben, sich die rechtliche Pflicht ergebe, einem (be-
stimmten) Staat anzugehören; aber tatsächlich kommen manche
Theorien auf diese Behauptung hinaus1.

Kelsen (Die Lehre von der Souveränität (1920) 96, All-
gemein. Staatslehre 18) glaubt, die Verbindlichkeit der geltenden
(d. h. nach ihm: der in der Regel wirksamen) Ordnung aus einem
anderen Prinzip ableiten zu können, nämlich aus dem „auf das
Gebiet der Wertung ausgedehnten Grundsatz der Erkenntnis-
ökonomie“. Entsprechend diesem denkökonomischen Gesetze
Machs (auf das Normative übertragen) müßte nämlich diejenige
Rechtsordnung als die geltende bezeichnet werden, nach der
möglichst viel (gegebene) Tatbestände als rechtmäßig („norment-
sprechend, somit als relativ wertvoll“) bezeichnet werden könnten.
Allein die Analogie mit den Gesetzen des theoretischen Denkens
trifft nicht zu2. Hier stellt sich dem Denkenden die Aufgabe, ge-
gebene Tatsachen möglichst einfach zu erklären; im Gebiete des
Rechts aber stellt sich dem Theoretiker nicht die Aufgabe, mög-
lichst viel Tatbestände als normentsprechend zu erweisen (wie
sollte diese Zahl ermittelt werden? Tatbestände gibt es nur in
Beziehung auf einen gegebenen Rechtssatz!), sondern die Norm
zu finden, nach der die „Tatbestände“ auf ihre Rechtsmäßigkeit
zu beurteilen sind; die Norm kann sich nicht richten nach den
„Tatbeständen“, d. h. wohl nach den Maximen, die tatsächlich
geübt werden, sondern umgekehrt: nach der anderweitig fest-
gestellten Norm beurteilt sich, welche Tatbestände, es mögen
viel oder wenig sein, normentsprechend, relativ wertvoll, oder
einfacher: rechtmäßig sind. Wer nach der Geltung fragt, fragt
ja eben, was gesollt werde3; die Spannung zwischen Sein und

1 Der Gedanke, daß der Staat ein Postulat der praktischen Vernunft
sei, gehört nicht hierher; denn rechtliche Erwägungen sind auch Erwägungen
der praktischen Vernunft, nicht nur moralische. G. Jellinek, Allgemeine
Staatslehre 219; E. Huber, Recht und Rechtsverwirklichung (1921) 34 ff.
2 Vgl. Auch Roffenstein, Kelsens Staatsbegriff und die Soziologie,
in Ztschr. für öffentliches Recht IV 554; Verdroß, Die Einheit des recht-
liches Weltbildes 79 ff. Darin liegt der Fehler der These Sanders, Staat
und Recht I (1922).
3 Oder was sich ein korrekt denkender Mensch als verbindlich zu
denken hat, wie Zitelmann a. a. O. S. 460 bemerkt; aber nicht ein logisch
korrekt deduzierender, sondern ein vernünftig urteilender Mensch.
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[197/0212] Die Geltung des Rechts. schaft zu leben, sich die rechtliche Pflicht ergebe, einem (be- stimmten) Staat anzugehören; aber tatsächlich kommen manche Theorien auf diese Behauptung hinaus 1. Kelsen (Die Lehre von der Souveränität (1920) 96, All- gemein. Staatslehre 18) glaubt, die Verbindlichkeit der geltenden (d. h. nach ihm: der in der Regel wirksamen) Ordnung aus einem anderen Prinzip ableiten zu können, nämlich aus dem „auf das Gebiet der Wertung ausgedehnten Grundsatz der Erkenntnis- ökonomie“. Entsprechend diesem denkökonomischen Gesetze Machs (auf das Normative übertragen) müßte nämlich diejenige Rechtsordnung als die geltende bezeichnet werden, nach der möglichst viel (gegebene) Tatbestände als rechtmäßig („norment- sprechend, somit als relativ wertvoll“) bezeichnet werden könnten. Allein die Analogie mit den Gesetzen des theoretischen Denkens trifft nicht zu 2. Hier stellt sich dem Denkenden die Aufgabe, ge- gebene Tatsachen möglichst einfach zu erklären; im Gebiete des Rechts aber stellt sich dem Theoretiker nicht die Aufgabe, mög- lichst viel Tatbestände als normentsprechend zu erweisen (wie sollte diese Zahl ermittelt werden? Tatbestände gibt es nur in Beziehung auf einen gegebenen Rechtssatz!), sondern die Norm zu finden, nach der die „Tatbestände“ auf ihre Rechtsmäßigkeit zu beurteilen sind; die Norm kann sich nicht richten nach den „Tatbeständen“, d. h. wohl nach den Maximen, die tatsächlich geübt werden, sondern umgekehrt: nach der anderweitig fest- gestellten Norm beurteilt sich, welche Tatbestände, es mögen viel oder wenig sein, normentsprechend, relativ wertvoll, oder einfacher: rechtmäßig sind. Wer nach der Geltung fragt, fragt ja eben, was gesollt werde 3; die Spannung zwischen Sein und 1 Der Gedanke, daß der Staat ein Postulat der praktischen Vernunft sei, gehört nicht hierher; denn rechtliche Erwägungen sind auch Erwägungen der praktischen Vernunft, nicht nur moralische. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre 219; E. Huber, Recht und Rechtsverwirklichung (1921) 34 ff. 2 Vgl. Auch Roffenstein, Kelsens Staatsbegriff und die Soziologie, in Ztschr. für öffentliches Recht IV 554; Verdroß, Die Einheit des recht- liches Weltbildes 79 ff. Darin liegt der Fehler der These Sanders, Staat und Recht I (1922). 3 Oder was sich ein korrekt denkender Mensch als verbindlich zu denken hat, wie Zitelmann a. a. O. S. 460 bemerkt; aber nicht ein logisch korrekt deduzierender, sondern ein vernünftig urteilender Mensch.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/212>, abgerufen am 29.04.2024.