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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
bevor ein Gesetz entstehen kann, muß eine mit gesetzgebender
Gewalt ausgerüstete Behörde da sein; die gesetzgebende Behörde
kann sich nicht selber durch Gesetz die Kompetenz, Gesetze zu
machen, zulegen. Denn entweder hat sie schon die gesetzgebende
Gewalt im Momente, wo sie dieses Gesetz erläßt, dann ist das Ge-
setz überflüssig, oder sie hat die Gesetzgebungsgewalt noch nicht,
dann kann sie auch das Gesetz nicht erlassen. Man darf nur diese
"Begründung", "Schaffung", "Entstehung" des Gesetzgebungs-
rechts nicht im genetischen, historischen Sinn auffassen, sondern
im logischen. Die Frage ist nicht, wie im Laufe der Geschichte eine
Behörde, z. B. die Volksvertretung oder das Volk selbst (als Lands-
gemeinde), die gesetzgebende Gewalt erlangt habe; nicht selten
haben revolutionär eingesetzte Volksvertretungen ihren Anspruch
durch ein "Gesetz" bekräftigt, oder revolutionäre Volksver-
sammlungen durch einen Volksbeschluß; und diese Beschlüsse
bildeten den geschichtlichen Ausgangspunkt des neuen Rechtes1.
Die Frage ist vielmehr, wie die Verbindlichkeit einer bestehenden
(als gültig gedachten) Gesetzgebungsgewalt zu denken, in be-
gründeter Weise zu erklären ist: ob man annehmen kann, die
gesetzgebende Behörde, z. B. das Parlament, sei zur Rechts-
setzung zuständig, weil es diese Zuständigkeit will, oder ob man
annehmen muß (wenn man korrekt denken will), daß sie diese
Zuständigkeit aus anderer Quelle, kraft eines nicht von ihr selbst
aufgestellten Rechtssatzes habe. Und das letztere, behaupten wir,
ist das richtige, weil die Zuständigkeit zur Gesetzgebung das
logische Prius verbindlicher Gesetzgebungstätigkeit ist. Die
Generalstände von Frankreich haben allerdings am 1. Oktober 1789
beschlossen, daß sie von nun an das Gesetzgebungsrecht ausübten2;
aber nicht weil sie diesen Beschluß gefaßt hatten, sind sie zu-
ständig geworden, sondern weil das (wie immer entstandene) neue
Verfassungsrecht die Unterstützung der Macht erhalten hat, was,
wie oben (S. 182 ff.) ausgeführt, eine begriffliche Feststellung, aber
keine Erklärung ist. Vgl. das Urteil des Schw. Bundesgerichts vom
5. Oktober 1905, i. S. Ziegler g. Schaffhausen, 31, II 860: "Die
Staatshoheit ist in ihrer Beziehung zu den Individuen, die ihr . . .

1 Nicht den rechtlichen; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre,
3. A., 274.
2 Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887) 85.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
bevor ein Gesetz entstehen kann, muß eine mit gesetzgebender
Gewalt ausgerüstete Behörde da sein; die gesetzgebende Behörde
kann sich nicht selber durch Gesetz die Kompetenz, Gesetze zu
machen, zulegen. Denn entweder hat sie schon die gesetzgebende
Gewalt im Momente, wo sie dieses Gesetz erläßt, dann ist das Ge-
setz überflüssig, oder sie hat die Gesetzgebungsgewalt noch nicht,
dann kann sie auch das Gesetz nicht erlassen. Man darf nur diese
„Begründung“, „Schaffung“, „Entstehung“ des Gesetzgebungs-
rechts nicht im genetischen, historischen Sinn auffassen, sondern
im logischen. Die Frage ist nicht, wie im Laufe der Geschichte eine
Behörde, z. B. die Volksvertretung oder das Volk selbst (als Lands-
gemeinde), die gesetzgebende Gewalt erlangt habe; nicht selten
haben revolutionär eingesetzte Volksvertretungen ihren Anspruch
durch ein „Gesetz“ bekräftigt, oder revolutionäre Volksver-
sammlungen durch einen Volksbeschluß; und diese Beschlüsse
bildeten den geschichtlichen Ausgangspunkt des neuen Rechtes1.
Die Frage ist vielmehr, wie die Verbindlichkeit einer bestehenden
(als gültig gedachten) Gesetzgebungsgewalt zu denken, in be-
gründeter Weise zu erklären ist: ob man annehmen kann, die
gesetzgebende Behörde, z. B. das Parlament, sei zur Rechts-
setzung zuständig, weil es diese Zuständigkeit will, oder ob man
annehmen muß (wenn man korrekt denken will), daß sie diese
Zuständigkeit aus anderer Quelle, kraft eines nicht von ihr selbst
aufgestellten Rechtssatzes habe. Und das letztere, behaupten wir,
ist das richtige, weil die Zuständigkeit zur Gesetzgebung das
logische Prius verbindlicher Gesetzgebungstätigkeit ist. Die
Generalstände von Frankreich haben allerdings am 1. Oktober 1789
beschlossen, daß sie von nun an das Gesetzgebungsrecht ausübten2;
aber nicht weil sie diesen Beschluß gefaßt hatten, sind sie zu-
ständig geworden, sondern weil das (wie immer entstandene) neue
Verfassungsrecht die Unterstützung der Macht erhalten hat, was,
wie oben (S. 182 ff.) ausgeführt, eine begriffliche Feststellung, aber
keine Erklärung ist. Vgl. das Urteil des Schw. Bundesgerichts vom
5. Oktober 1905, i. S. Ziegler g. Schaffhausen, 31, II 860: „Die
Staatshoheit ist in ihrer Beziehung zu den Individuen, die ihr . . .

1 Nicht den rechtlichen; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre,
3. A., 274.
2 Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887) 85.
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[208/0223] II. Teil. Die staatliche Verfassung. bevor ein Gesetz entstehen kann, muß eine mit gesetzgebender Gewalt ausgerüstete Behörde da sein; die gesetzgebende Behörde kann sich nicht selber durch Gesetz die Kompetenz, Gesetze zu machen, zulegen. Denn entweder hat sie schon die gesetzgebende Gewalt im Momente, wo sie dieses Gesetz erläßt, dann ist das Ge- setz überflüssig, oder sie hat die Gesetzgebungsgewalt noch nicht, dann kann sie auch das Gesetz nicht erlassen. Man darf nur diese „Begründung“, „Schaffung“, „Entstehung“ des Gesetzgebungs- rechts nicht im genetischen, historischen Sinn auffassen, sondern im logischen. Die Frage ist nicht, wie im Laufe der Geschichte eine Behörde, z. B. die Volksvertretung oder das Volk selbst (als Lands- gemeinde), die gesetzgebende Gewalt erlangt habe; nicht selten haben revolutionär eingesetzte Volksvertretungen ihren Anspruch durch ein „Gesetz“ bekräftigt, oder revolutionäre Volksver- sammlungen durch einen Volksbeschluß; und diese Beschlüsse bildeten den geschichtlichen Ausgangspunkt des neuen Rechtes 1. Die Frage ist vielmehr, wie die Verbindlichkeit einer bestehenden (als gültig gedachten) Gesetzgebungsgewalt zu denken, in be- gründeter Weise zu erklären ist: ob man annehmen kann, die gesetzgebende Behörde, z. B. das Parlament, sei zur Rechts- setzung zuständig, weil es diese Zuständigkeit will, oder ob man annehmen muß (wenn man korrekt denken will), daß sie diese Zuständigkeit aus anderer Quelle, kraft eines nicht von ihr selbst aufgestellten Rechtssatzes habe. Und das letztere, behaupten wir, ist das richtige, weil die Zuständigkeit zur Gesetzgebung das logische Prius verbindlicher Gesetzgebungstätigkeit ist. Die Generalstände von Frankreich haben allerdings am 1. Oktober 1789 beschlossen, daß sie von nun an das Gesetzgebungsrecht ausübten 2; aber nicht weil sie diesen Beschluß gefaßt hatten, sind sie zu- ständig geworden, sondern weil das (wie immer entstandene) neue Verfassungsrecht die Unterstützung der Macht erhalten hat, was, wie oben (S. 182 ff.) ausgeführt, eine begriffliche Feststellung, aber keine Erklärung ist. Vgl. das Urteil des Schw. Bundesgerichts vom 5. Oktober 1905, i. S. Ziegler g. Schaffhausen, 31, II 860: „Die Staatshoheit ist in ihrer Beziehung zu den Individuen, die ihr . . . 1 Nicht den rechtlichen; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A., 274. 2 Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887) 85.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/223>, abgerufen am 29.04.2024.