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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
der Herrschaft der Rechtsordnung ab, sondern außer ihr. Eine
Verfassung, die darüber keine Vorschriften enthält, ist nicht un-
vollständig.

Das Verfahren der Verfassungsänderung kann auch nicht,
wie eine noch verbreitete Lehre vermeint, in der Demokratie aus
dem "Grundsatz" der Volkssouveränität, in der Monarchie aus
dem ursprünglichen Recht des Monarchen oder aus dem monar-
chischen Prinzip abgeleitet werden.

Gegen die Lehre von der Volkssouveränität ist nicht sowohl
die Tatsache einzuwenden, daß viele Verfassungen nicht vom
"Volke" gemacht worden sind und doch Geltung erlangt haben;
als vielmehr die Erwägung, daß auch die Verbindlichkeit der vom
Volke gemachten Verfassungen nicht in rechtslogischer Ableitung
aus der angeblichen Souveränität des Volkes erklärt werden kann.
Um die Verbindlichkeit der demokratischen Verfassung rechtlich
daraus ableiten zu können, muß man annehmen, das Volk sei,
vor jeder Verfassung, zuständig, Verfassungen zu erlassen. Allein
worauf sollte diese rechtliche Befugnis des Volkes beruhen? Doch
nur auf dem Rechtssatz, daß das Volk, d. h. gewisse Personen einer
gewissen menschlichen Gruppe, in gewissem Verfahren das Grund-
gesetz dieser Gesellschaft in rechtsverbindlicher Weise aufstellen
kann. Aber dieser Rechtssatz wäre ja schon eine Verfassung,
die ihrerseits der rechtlichen Begründung bedürfte, d. h. der Ab-
leitung aus einem anderen, geltenden Satz. Die Verfassung,
deren Begründung wir suchen, ist ja, per definitionem, das Grund-
gesetz, d. h. der letzte rechtliche Geltungsgrund des positiven
Rechts; durch sie wird das Volk im demokratischen Staat zu
einem rechthabenden, bestimmten, handlungsfähigen Ganzen.
Das Volk kann nicht rechtlich organisiert sein vor der Verfassung,
da es als Organ selbst das Geschöpf der Verfassung ist1. Der
allgemeine Satz, daß das (d. h. jedes) Volk souverän sei, ist nicht
ein Rechtssatz, sondern ein politisches Postulat: das Postulat,
daß überall die Gesamtheit der urteilsfähigen Glieder der Ge-
meinschaft letztinstanzlich entscheiden sollen über Verfassung
und Gesetz; aber sofern es gilt, das Gesetz zu machen, kann ihm
diese Kompetenz nur die Verfassung geben, und sofern es gilt, die

1 Carre de Malberg, Theorie generale II 144, 166, 309, 490.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
der Herrschaft der Rechtsordnung ab, sondern außer ihr. Eine
Verfassung, die darüber keine Vorschriften enthält, ist nicht un-
vollständig.

Das Verfahren der Verfassungsänderung kann auch nicht,
wie eine noch verbreitete Lehre vermeint, in der Demokratie aus
dem „Grundsatz“ der Volkssouveränität, in der Monarchie aus
dem ursprünglichen Recht des Monarchen oder aus dem monar-
chischen Prinzip abgeleitet werden.

Gegen die Lehre von der Volkssouveränität ist nicht sowohl
die Tatsache einzuwenden, daß viele Verfassungen nicht vom
„Volke“ gemacht worden sind und doch Geltung erlangt haben;
als vielmehr die Erwägung, daß auch die Verbindlichkeit der vom
Volke gemachten Verfassungen nicht in rechtslogischer Ableitung
aus der angeblichen Souveränität des Volkes erklärt werden kann.
Um die Verbindlichkeit der demokratischen Verfassung rechtlich
daraus ableiten zu können, muß man annehmen, das Volk sei,
vor jeder Verfassung, zuständig, Verfassungen zu erlassen. Allein
worauf sollte diese rechtliche Befugnis des Volkes beruhen? Doch
nur auf dem Rechtssatz, daß das Volk, d. h. gewisse Personen einer
gewissen menschlichen Gruppe, in gewissem Verfahren das Grund-
gesetz dieser Gesellschaft in rechtsverbindlicher Weise aufstellen
kann. Aber dieser Rechtssatz wäre ja schon eine Verfassung,
die ihrerseits der rechtlichen Begründung bedürfte, d. h. der Ab-
leitung aus einem anderen, geltenden Satz. Die Verfassung,
deren Begründung wir suchen, ist ja, per definitionem, das Grund-
gesetz, d. h. der letzte rechtliche Geltungsgrund des positiven
Rechts; durch sie wird das Volk im demokratischen Staat zu
einem rechthabenden, bestimmten, handlungsfähigen Ganzen.
Das Volk kann nicht rechtlich organisiert sein vor der Verfassung,
da es als Organ selbst das Geschöpf der Verfassung ist1. Der
allgemeine Satz, daß das (d. h. jedes) Volk souverän sei, ist nicht
ein Rechtssatz, sondern ein politisches Postulat: das Postulat,
daß überall die Gesamtheit der urteilsfähigen Glieder der Ge-
meinschaft letztinstanzlich entscheiden sollen über Verfassung
und Gesetz; aber sofern es gilt, das Gesetz zu machen, kann ihm
diese Kompetenz nur die Verfassung geben, und sofern es gilt, die

1 Carré de Malberg, Théorie générale II 144, 166, 309, 490.
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[218/0233] II. Teil. Die staatliche Verfassung. der Herrschaft der Rechtsordnung ab, sondern außer ihr. Eine Verfassung, die darüber keine Vorschriften enthält, ist nicht un- vollständig. Das Verfahren der Verfassungsänderung kann auch nicht, wie eine noch verbreitete Lehre vermeint, in der Demokratie aus dem „Grundsatz“ der Volkssouveränität, in der Monarchie aus dem ursprünglichen Recht des Monarchen oder aus dem monar- chischen Prinzip abgeleitet werden. Gegen die Lehre von der Volkssouveränität ist nicht sowohl die Tatsache einzuwenden, daß viele Verfassungen nicht vom „Volke“ gemacht worden sind und doch Geltung erlangt haben; als vielmehr die Erwägung, daß auch die Verbindlichkeit der vom Volke gemachten Verfassungen nicht in rechtslogischer Ableitung aus der angeblichen Souveränität des Volkes erklärt werden kann. Um die Verbindlichkeit der demokratischen Verfassung rechtlich daraus ableiten zu können, muß man annehmen, das Volk sei, vor jeder Verfassung, zuständig, Verfassungen zu erlassen. Allein worauf sollte diese rechtliche Befugnis des Volkes beruhen? Doch nur auf dem Rechtssatz, daß das Volk, d. h. gewisse Personen einer gewissen menschlichen Gruppe, in gewissem Verfahren das Grund- gesetz dieser Gesellschaft in rechtsverbindlicher Weise aufstellen kann. Aber dieser Rechtssatz wäre ja schon eine Verfassung, die ihrerseits der rechtlichen Begründung bedürfte, d. h. der Ab- leitung aus einem anderen, geltenden Satz. Die Verfassung, deren Begründung wir suchen, ist ja, per definitionem, das Grund- gesetz, d. h. der letzte rechtliche Geltungsgrund des positiven Rechts; durch sie wird das Volk im demokratischen Staat zu einem rechthabenden, bestimmten, handlungsfähigen Ganzen. Das Volk kann nicht rechtlich organisiert sein vor der Verfassung, da es als Organ selbst das Geschöpf der Verfassung ist 1. Der allgemeine Satz, daß das (d. h. jedes) Volk souverän sei, ist nicht ein Rechtssatz, sondern ein politisches Postulat: das Postulat, daß überall die Gesamtheit der urteilsfähigen Glieder der Ge- meinschaft letztinstanzlich entscheiden sollen über Verfassung und Gesetz; aber sofern es gilt, das Gesetz zu machen, kann ihm diese Kompetenz nur die Verfassung geben, und sofern es gilt, die 1 Carré de Malberg, Théorie générale II 144, 166, 309, 490.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/233>, abgerufen am 29.04.2024.