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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
die Privilegien aufhob, bis zu den Verfassungen unserer Kantone
und der Eidgenossenschaft, die dutzendfach mißbeliebige gesetz-
liche Einrichtungen und erworbene Rechte abgeschafft haben,
bis zur russischen Sovietverfassung, die gegenüber dem Privatrecht
noch viel radikaler verfahren ist. Ob das vernünftig und begründet
ist, ist eine andere Frage, eine Frage, die sich nicht so einfach
beantworten läßt (siehe oben S. 94). Aber positivrechtliche
Schranken gegen diese Eingriffe gibt es nicht. Wenn das Grund-
gesetz umgewandelt wird, ist im Grundsatz auch alles Recht
niederer Ordnung, das von ihr abhängt, in Frage gestellt. Der
Staat wird, staatsrechtlich gesprochen, ein anderer; seine staats-
rechtliche "Identität" hört auf1.

Sodann ergibt sich aus unserer Auffassung, daß die geltende
Verfassung und sie allein die rechtliche Natur eines Staates be-
stimmt, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer anderen Ver-
fassung2. Denn diese Möglichkeit steht außerhalb rechtlicher

1 Es ist im Grundsatz eine neue Rechtsordnung und ein neuer Staat
entstanden; im staatsrechtlichen Sinn, d. h. im Verhältnis zu den Rechts-
genossen. Nicht aber im internationalrechtlichen Sinn, nämlich im Ver-
hältnis zu den anderen Staaten. Vgl. unten S. 360. Es hat keinen Sinn,
über die Identität des Staates zu streiten, z. B. darüber, ob das Österreich
von 1919 das veränderte alte oder ein neues sei; ob das neue deutsche Recht
die Fortsetzung des alten sei (vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht V 497 ff.),
wenn man nicht weiß, für welche praktische Frage die Entscheidung gelten
soll: ob für die Weitergeltung des alten Landesrechts im Verhältnis zum
Einzelnen oder für die Weitergeltung der alten völkerrechtlichen Rechts-
verhältnisse im Verhältnis zu den anderen Staaten. Landesrechtlich ist
die neue Verfassung grundsätzlich der Anfang eines neuen Lebens; völker-
rechtlich unterbricht sie die organische Entwicklung nicht. -- Jene grund-
sätzliche Erneuerung des Landesrechts ist das einzige, was mit dem Satze
gemeint ist, daß die landesrechtliche "Identität" des Staates mit der Ver-
fassung zusammenhänge; es ist auch die einzige praktische Bedeutung, die
diese Frage haben kann. Vgl. Kommentar der BV S. 7 und Carre de
Malberg
II 498; Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft
(1926) 17.
2 Oben S. 163; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A., 748.
Die gegenteilige Ansicht ist verbreiteter: Laband, Staatsrecht, 5. A., I 63;
Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (1905) 88;
Hänel, Die vertragsmäßigen Elemente der Reichsverfassung 145; Zorn,
Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. A., I 7, 8 ff.; Westerkamp, Bund
und Bundesstaat 458; Borel, Etude sur la souverainete de l'Etat federatif

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
die Privilegien aufhob, bis zu den Verfassungen unserer Kantone
und der Eidgenossenschaft, die dutzendfach mißbeliebige gesetz-
liche Einrichtungen und erworbene Rechte abgeschafft haben,
bis zur russischen Sovietverfassung, die gegenüber dem Privatrecht
noch viel radikaler verfahren ist. Ob das vernünftig und begründet
ist, ist eine andere Frage, eine Frage, die sich nicht so einfach
beantworten läßt (siehe oben S. 94). Aber positivrechtliche
Schranken gegen diese Eingriffe gibt es nicht. Wenn das Grund-
gesetz umgewandelt wird, ist im Grundsatz auch alles Recht
niederer Ordnung, das von ihr abhängt, in Frage gestellt. Der
Staat wird, staatsrechtlich gesprochen, ein anderer; seine staats-
rechtliche „Identität“ hört auf1.

Sodann ergibt sich aus unserer Auffassung, daß die geltende
Verfassung und sie allein die rechtliche Natur eines Staates be-
stimmt, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer anderen Ver-
fassung2. Denn diese Möglichkeit steht außerhalb rechtlicher

1 Es ist im Grundsatz eine neue Rechtsordnung und ein neuer Staat
entstanden; im staatsrechtlichen Sinn, d. h. im Verhältnis zu den Rechts-
genossen. Nicht aber im internationalrechtlichen Sinn, nämlich im Ver-
hältnis zu den anderen Staaten. Vgl. unten S. 360. Es hat keinen Sinn,
über die Identität des Staates zu streiten, z. B. darüber, ob das Österreich
von 1919 das veränderte alte oder ein neues sei; ob das neue deutsche Recht
die Fortsetzung des alten sei (vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht V 497 ff.),
wenn man nicht weiß, für welche praktische Frage die Entscheidung gelten
soll: ob für die Weitergeltung des alten Landesrechts im Verhältnis zum
Einzelnen oder für die Weitergeltung der alten völkerrechtlichen Rechts-
verhältnisse im Verhältnis zu den anderen Staaten. Landesrechtlich ist
die neue Verfassung grundsätzlich der Anfang eines neuen Lebens; völker-
rechtlich unterbricht sie die organische Entwicklung nicht. — Jene grund-
sätzliche Erneuerung des Landesrechts ist das einzige, was mit dem Satze
gemeint ist, daß die landesrechtliche „Identität“ des Staates mit der Ver-
fassung zusammenhänge; es ist auch die einzige praktische Bedeutung, die
diese Frage haben kann. Vgl. Kommentar der BV S. 7 und Carré de
Malberg
II 498; Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft
(1926) 17.
2 Oben S. 163; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A., 748.
Die gegenteilige Ansicht ist verbreiteter: Laband, Staatsrecht, 5. A., I 63;
Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (1905) 88;
Hänel, Die vertragsmäßigen Elemente der Reichsverfassung 145; Zorn,
Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. A., I 7, 8 ff.; Westerkamp, Bund
und Bundesstaat 458; Borel, Etude sur la souveraineté de l'Etat fédératif
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[220/0235] II. Teil. Die staatliche Verfassung. die Privilegien aufhob, bis zu den Verfassungen unserer Kantone und der Eidgenossenschaft, die dutzendfach mißbeliebige gesetz- liche Einrichtungen und erworbene Rechte abgeschafft haben, bis zur russischen Sovietverfassung, die gegenüber dem Privatrecht noch viel radikaler verfahren ist. Ob das vernünftig und begründet ist, ist eine andere Frage, eine Frage, die sich nicht so einfach beantworten läßt (siehe oben S. 94). Aber positivrechtliche Schranken gegen diese Eingriffe gibt es nicht. Wenn das Grund- gesetz umgewandelt wird, ist im Grundsatz auch alles Recht niederer Ordnung, das von ihr abhängt, in Frage gestellt. Der Staat wird, staatsrechtlich gesprochen, ein anderer; seine staats- rechtliche „Identität“ hört auf 1. Sodann ergibt sich aus unserer Auffassung, daß die geltende Verfassung und sie allein die rechtliche Natur eines Staates be- stimmt, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer anderen Ver- fassung 2. Denn diese Möglichkeit steht außerhalb rechtlicher 1 Es ist im Grundsatz eine neue Rechtsordnung und ein neuer Staat entstanden; im staatsrechtlichen Sinn, d. h. im Verhältnis zu den Rechts- genossen. Nicht aber im internationalrechtlichen Sinn, nämlich im Ver- hältnis zu den anderen Staaten. Vgl. unten S. 360. Es hat keinen Sinn, über die Identität des Staates zu streiten, z. B. darüber, ob das Österreich von 1919 das veränderte alte oder ein neues sei; ob das neue deutsche Recht die Fortsetzung des alten sei (vgl. Zeitschrift für öffentliches Recht V 497 ff.), wenn man nicht weiß, für welche praktische Frage die Entscheidung gelten soll: ob für die Weitergeltung des alten Landesrechts im Verhältnis zum Einzelnen oder für die Weitergeltung der alten völkerrechtlichen Rechts- verhältnisse im Verhältnis zu den anderen Staaten. Landesrechtlich ist die neue Verfassung grundsätzlich der Anfang eines neuen Lebens; völker- rechtlich unterbricht sie die organische Entwicklung nicht. — Jene grund- sätzliche Erneuerung des Landesrechts ist das einzige, was mit dem Satze gemeint ist, daß die landesrechtliche „Identität“ des Staates mit der Ver- fassung zusammenhänge; es ist auch die einzige praktische Bedeutung, die diese Frage haben kann. Vgl. Kommentar der BV S. 7 und Carré de Malberg II 498; Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft (1926) 17. 2 Oben S. 163; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A., 748. Die gegenteilige Ansicht ist verbreiteter: Laband, Staatsrecht, 5. A., I 63; Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts (1905) 88; Hänel, Die vertragsmäßigen Elemente der Reichsverfassung 145; Zorn, Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. A., I 7, 8 ff.; Westerkamp, Bund und Bundesstaat 458; Borel, Etude sur la souveraineté de l'Etat fédératif

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/235>, abgerufen am 29.04.2024.