Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
widrig ist, d. h. kraft zwingender Vorschrift unterlassen werden
muß, und nicht nur zweckwidrig, d. h. unterlassen werden muß
von demjenigen, der einen bestimmten Zweck erreichen will. Des-
halb hat die Strafe selbst keinen Zweck1, wie derjenige voraussetzt,
der nach dem "Zweck der Strafe" frägt; denn das Recht ist selbst
das Maß der Zwecke; es ist "Selbstzweck" und eben deshalb
im Grundsatz unbedingt verbindlich; die Strafe gehört aber, wie
wir gesehen haben, begrifflich zum Recht, nämlich zur Erzwingung
der anders nicht erzwingbaren Rechtssätze2. (Einen Zweck hat
die "Strafe", die nicht als Folge der Verletzung, sondern als
Antrieb zur Erfüllung der Rechtspflicht, als Kompulsivstrafe, ver-
hängt wird, das ist aber keine eigentliche Strafe.)

Kant wollte von der Übertretung solcher Normen sprechen;
dieser Art sind aber alle öffentlich-rechtlichen zwingenden Normen,
d.h. alle Normen, die aufgestellt werden lediglich, weil sie (nach
der Meinung des Gesetzgebers) richtig sind, ohne Rücksicht darauf,

1 Sie ist in diesem Sinn zwecklos, aber keineswegs sinnlos.
2 Deshalb ist es auch widerspruchsvoll, vom Zweck des Rechts zu
sprechen (S. 130); der einzelne Rechtssatz ist wohl bestimmt, im Plane der
ganzen Rechtsordnung eine bestimmte Ordnung herzustellen, z. B. den
Gläubiger gegen die Nichterfüllung des Vertrages zu schützen oder ihm, wenn
er klagt, eine zuständige Gerichtsinstanz anzuweisen. Wenn der Vertrag
als verbindliche Rechtseinrichtung anerkannt und folgerichtig geordnet sein
soll, muß auch die Nichterfüllung des Vertrages vorgesehen und dem Ver-
letzten ein Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Im Verhältnis zum
Ganzen ist der Teil in gewissem Sinne (nämlich begriffslogisch) das Mittel.
Wer ein folgerichtiges Ganzes will, muß (logischerweise) die Teile mit-
einander in Einklang bringen; aber die fertigen Teile sind nicht das Mittel,
durch welches ein davon verschiedenes Ergebnis bewirkt wird. Und als
Ganzes kann das Recht nicht wieder als Mittel zu einem Zweck bezeichnet
werden. Deshalb ist das Recht weder in seinen Teilen noch im Ganzen in
teleologischer Betrachtung das Mittel zu einem darüber hinaus liegenden
Zweck. Sonst müßte dieser Zweck wieder als verbindlich eingesehen
werden und, wenn das nicht an Hand eines absoluten, unbedingten Maß-
stabes geschehen könnte (der eben dann das Recht in unserem Sinne wäre),
so müßte es in weiterer teleologischer Betrachtung wieder Mittel sein zu
einem noch ferneren Zweck und so fort ins Unendliche. Die teleologische
Begründung ist ebenso endlos wie die ursächliche Erklärung und deshalb
ebenso relativ. Das (geltende) Recht will aber (und muß) ein absoluter
Maßstab sein, nicht ein absolut gleichbleibender im Verlauf der Zeit wie
die Idee des Rechts, aber ein unbedingt gültiger, so wie es zur Zeit besteht.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
widrig ist, d. h. kraft zwingender Vorschrift unterlassen werden
muß, und nicht nur zweckwidrig, d. h. unterlassen werden muß
von demjenigen, der einen bestimmten Zweck erreichen will. Des-
halb hat die Strafe selbst keinen Zweck1, wie derjenige voraussetzt,
der nach dem „Zweck der Strafe“ frägt; denn das Recht ist selbst
das Maß der Zwecke; es ist „Selbstzweck“ und eben deshalb
im Grundsatz unbedingt verbindlich; die Strafe gehört aber, wie
wir gesehen haben, begrifflich zum Recht, nämlich zur Erzwingung
der anders nicht erzwingbaren Rechtssätze2. (Einen Zweck hat
die „Strafe“, die nicht als Folge der Verletzung, sondern als
Antrieb zur Erfüllung der Rechtspflicht, als Kompulsivstrafe, ver-
hängt wird, das ist aber keine eigentliche Strafe.)

Kant wollte von der Übertretung solcher Normen sprechen;
dieser Art sind aber alle öffentlich-rechtlichen zwingenden Normen,
d.h. alle Normen, die aufgestellt werden lediglich, weil sie (nach
der Meinung des Gesetzgebers) richtig sind, ohne Rücksicht darauf,

1 Sie ist in diesem Sinn zwecklos, aber keineswegs sinnlos.
2 Deshalb ist es auch widerspruchsvoll, vom Zweck des Rechts zu
sprechen (S. 130); der einzelne Rechtssatz ist wohl bestimmt, im Plane der
ganzen Rechtsordnung eine bestimmte Ordnung herzustellen, z. B. den
Gläubiger gegen die Nichterfüllung des Vertrages zu schützen oder ihm, wenn
er klagt, eine zuständige Gerichtsinstanz anzuweisen. Wenn der Vertrag
als verbindliche Rechtseinrichtung anerkannt und folgerichtig geordnet sein
soll, muß auch die Nichterfüllung des Vertrages vorgesehen und dem Ver-
letzten ein Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Im Verhältnis zum
Ganzen ist der Teil in gewissem Sinne (nämlich begriffslogisch) das Mittel.
Wer ein folgerichtiges Ganzes will, muß (logischerweise) die Teile mit-
einander in Einklang bringen; aber die fertigen Teile sind nicht das Mittel,
durch welches ein davon verschiedenes Ergebnis bewirkt wird. Und als
Ganzes kann das Recht nicht wieder als Mittel zu einem Zweck bezeichnet
werden. Deshalb ist das Recht weder in seinen Teilen noch im Ganzen in
teleologischer Betrachtung das Mittel zu einem darüber hinaus liegenden
Zweck. Sonst müßte dieser Zweck wieder als verbindlich eingesehen
werden und, wenn das nicht an Hand eines absoluten, unbedingten Maß-
stabes geschehen könnte (der eben dann das Recht in unserem Sinne wäre),
so müßte es in weiterer teleologischer Betrachtung wieder Mittel sein zu
einem noch ferneren Zweck und so fort ins Unendliche. Die teleologische
Begründung ist ebenso endlos wie die ursächliche Erklärung und deshalb
ebenso relativ. Das (geltende) Recht will aber (und muß) ein absoluter
Maßstab sein, nicht ein absolut gleichbleibender im Verlauf der Zeit wie
die Idee des Rechts, aber ein unbedingt gültiger, so wie es zur Zeit besteht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0315" n="300"/><fw place="top" type="header">II. Teil. Die staatliche Verfassung.</fw><lb/>
widrig ist, d. h. kraft zwingender Vorschrift unterlassen werden<lb/>
muß, und nicht nur zweckwidrig, d. h. unterlassen werden muß<lb/>
von demjenigen, der einen bestimmten Zweck erreichen will. Des-<lb/>
halb hat die Strafe selbst keinen Zweck<note place="foot" n="1">Sie ist in diesem Sinn zwecklos, aber keineswegs sinnlos.</note>, wie derjenige voraussetzt,<lb/>
der nach dem &#x201E;Zweck der Strafe&#x201C; frägt; denn das Recht ist selbst<lb/>
das <hi rendition="#g">Maß</hi> der Zwecke; es ist &#x201E;Selbstzweck&#x201C; und eben deshalb<lb/>
im Grundsatz unbedingt verbindlich; die Strafe gehört aber, wie<lb/>
wir gesehen haben, begrifflich zum Recht, nämlich zur Erzwingung<lb/>
der anders nicht erzwingbaren Rechtssätze<note place="foot" n="2">Deshalb ist es auch widerspruchsvoll, vom Zweck des Rechts zu<lb/>
sprechen (S. 130); der einzelne Rechtssatz ist wohl bestimmt, im Plane der<lb/>
ganzen Rechtsordnung eine bestimmte Ordnung herzustellen, z. B. den<lb/>
Gläubiger gegen die Nichterfüllung des Vertrages zu schützen oder ihm, wenn<lb/>
er klagt, eine zuständige Gerichtsinstanz anzuweisen. <hi rendition="#g">Wenn</hi> der Vertrag<lb/>
als verbindliche Rechtseinrichtung anerkannt und folgerichtig geordnet sein<lb/>
soll, muß auch die Nichterfüllung des Vertrages vorgesehen und dem Ver-<lb/>
letzten ein Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Im Verhältnis zum<lb/>
Ganzen ist der Teil in gewissem Sinne (nämlich begriffslogisch) das Mittel.<lb/>
Wer ein folgerichtiges Ganzes will, muß (logischerweise) die Teile mit-<lb/>
einander in Einklang bringen; aber die fertigen Teile sind nicht das Mittel,<lb/>
durch welches ein davon verschiedenes Ergebnis bewirkt wird. Und als<lb/>
Ganzes kann das Recht nicht wieder als Mittel zu einem Zweck bezeichnet<lb/>
werden. Deshalb ist das Recht weder in seinen Teilen noch im Ganzen in<lb/>
teleologischer Betrachtung das Mittel zu einem darüber hinaus liegenden<lb/>
Zweck. Sonst müßte dieser Zweck wieder als <hi rendition="#g">verbindlich</hi> eingesehen<lb/>
werden und, wenn das nicht an Hand eines absoluten, unbedingten Maß-<lb/>
stabes geschehen könnte (der eben dann das <hi rendition="#g">Recht</hi> in unserem Sinne wäre),<lb/>
so müßte es in weiterer teleologischer Betrachtung wieder Mittel sein zu<lb/>
einem noch ferneren Zweck und so fort ins Unendliche. Die teleologische<lb/>
Begründung ist ebenso endlos wie die ursächliche Erklärung und deshalb<lb/>
ebenso relativ. Das (geltende) Recht will aber (und muß) ein absoluter<lb/>
Maßstab sein, nicht ein absolut gleichbleibender im Verlauf der Zeit wie<lb/>
die Idee des Rechts, aber ein unbedingt gültiger, so wie es zur Zeit besteht.</note>. (Einen Zweck hat<lb/>
die &#x201E;Strafe&#x201C;, die nicht als Folge der Verletzung, sondern als<lb/>
Antrieb zur Erfüllung der Rechtspflicht, als Kompulsivstrafe, ver-<lb/>
hängt wird, das ist aber keine eigentliche Strafe.)</p><lb/>
              <p>Kant wollte von der Übertretung <hi rendition="#g">solcher</hi> Normen sprechen;<lb/>
dieser Art sind aber alle öffentlich-rechtlichen zwingenden Normen,<lb/>
d.h. alle Normen, die aufgestellt werden lediglich, weil sie (nach<lb/>
der Meinung des Gesetzgebers) richtig sind, ohne Rücksicht darauf,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[300/0315] II. Teil. Die staatliche Verfassung. widrig ist, d. h. kraft zwingender Vorschrift unterlassen werden muß, und nicht nur zweckwidrig, d. h. unterlassen werden muß von demjenigen, der einen bestimmten Zweck erreichen will. Des- halb hat die Strafe selbst keinen Zweck 1, wie derjenige voraussetzt, der nach dem „Zweck der Strafe“ frägt; denn das Recht ist selbst das Maß der Zwecke; es ist „Selbstzweck“ und eben deshalb im Grundsatz unbedingt verbindlich; die Strafe gehört aber, wie wir gesehen haben, begrifflich zum Recht, nämlich zur Erzwingung der anders nicht erzwingbaren Rechtssätze 2. (Einen Zweck hat die „Strafe“, die nicht als Folge der Verletzung, sondern als Antrieb zur Erfüllung der Rechtspflicht, als Kompulsivstrafe, ver- hängt wird, das ist aber keine eigentliche Strafe.) Kant wollte von der Übertretung solcher Normen sprechen; dieser Art sind aber alle öffentlich-rechtlichen zwingenden Normen, d.h. alle Normen, die aufgestellt werden lediglich, weil sie (nach der Meinung des Gesetzgebers) richtig sind, ohne Rücksicht darauf, 1 Sie ist in diesem Sinn zwecklos, aber keineswegs sinnlos. 2 Deshalb ist es auch widerspruchsvoll, vom Zweck des Rechts zu sprechen (S. 130); der einzelne Rechtssatz ist wohl bestimmt, im Plane der ganzen Rechtsordnung eine bestimmte Ordnung herzustellen, z. B. den Gläubiger gegen die Nichterfüllung des Vertrages zu schützen oder ihm, wenn er klagt, eine zuständige Gerichtsinstanz anzuweisen. Wenn der Vertrag als verbindliche Rechtseinrichtung anerkannt und folgerichtig geordnet sein soll, muß auch die Nichterfüllung des Vertrages vorgesehen und dem Ver- letzten ein Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Im Verhältnis zum Ganzen ist der Teil in gewissem Sinne (nämlich begriffslogisch) das Mittel. Wer ein folgerichtiges Ganzes will, muß (logischerweise) die Teile mit- einander in Einklang bringen; aber die fertigen Teile sind nicht das Mittel, durch welches ein davon verschiedenes Ergebnis bewirkt wird. Und als Ganzes kann das Recht nicht wieder als Mittel zu einem Zweck bezeichnet werden. Deshalb ist das Recht weder in seinen Teilen noch im Ganzen in teleologischer Betrachtung das Mittel zu einem darüber hinaus liegenden Zweck. Sonst müßte dieser Zweck wieder als verbindlich eingesehen werden und, wenn das nicht an Hand eines absoluten, unbedingten Maß- stabes geschehen könnte (der eben dann das Recht in unserem Sinne wäre), so müßte es in weiterer teleologischer Betrachtung wieder Mittel sein zu einem noch ferneren Zweck und so fort ins Unendliche. Die teleologische Begründung ist ebenso endlos wie die ursächliche Erklärung und deshalb ebenso relativ. Das (geltende) Recht will aber (und muß) ein absoluter Maßstab sein, nicht ein absolut gleichbleibender im Verlauf der Zeit wie die Idee des Rechts, aber ein unbedingt gültiger, so wie es zur Zeit besteht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/315
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/315>, abgerufen am 15.05.2024.