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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
Verbindlichkeit eines Rechtssatzes nicht aus einer historischen
Tatsache, wie die Anerkennung der Staaten, erklärend ableiten,
sofern nicht bereits ein Rechtssatz jener Tatsache solche Be-
deutung beilegt. Die primäre Geltung des Rechts kann aber offen-
bar auf diesem Wege nicht gewonnen werden1.

Auch wenn also gewisse Grundsätze einmal allgemein aner-
kannt worden sind, folgt daraus nicht, daß jeder Staat sie auch
in Zukunft anzuerkennen habe. Der Streit darüber, ob sie die
richtigen (bzw. ob sie noch die richtigen) seien, kann (ohne Rechts-
bruch) jederzeit von neuem beginnen. Jeder Grundsatz, der
geübt worden ist, kann immer wieder in Frage gezogen werden;
er kann sich nicht formal, unter Berufung auf eine Autorität, er
muß sich durch seinen Inhalt, seine Vernünftigkeit legitimieren;
und darüber, was vernünftig ist, kann die Diskussion nie ge-
schlossen werden. Jedem Staate steht es frei, nachzuweisen, daß
ein anderer Grundsatz der Gerechtigkeit besser entspricht oder
jetzt, unter veränderten Umständen, besser entspricht als der
bisherige. Es "gilt", was sich unter den jeweilen gegebenen Um-
ständen als Recht und gerecht erweist. Es ist ein stets neu zu
prüfendes, vernunftnotwendiges zwar, aber nie gegebenes Recht2.

1 Es handelt sich nicht darum, psychologisch zu erklären, wie ein
Rechtssatz im Laufe der Zeit, genetisch, als verbindlich angesehen werden
konnte, sondern wie die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes, der gilt,
rationell zu erklären ist.
2 Die "Rechtssätze", die v. Liszt, Völkerrecht, 11. A., 59, aus dem
Grundgedanken der Völkerrechtsgemeinschaft ableiten möchte, sind reines
Naturrecht, wie Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918) 112, richtig
bemerkt. Der Streit darüber, ob das Völkerrecht wahres Recht sei, kommt
daher, daß es in der Tat nicht die Bedingungen eines positiven Rechts er-
füllt, daß das Postulat einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung aber doch
unabweisbar ist. Deshalb sagen die einen mit Recht, eine bloße internationale
Moral, ein Kodex von Klugheitsregeln der Staatspolitik oder gar die völlige
ethische Ungebundenheit seien unzulängliche Annahmen, da sich ein ge-
ordnetes Verhältnis der Staaten untereinander bei dieser Annahme nicht
denken lasse. Die anderen aber sagen mit ebensoviel Recht, das Recht,
das für die Staaten verbindlich sein solle, lasse sich nicht nachweisen; es
bleibe stets streitig, da jeder Staat schließlich selbst darüber entscheide,
was rechtens sei, ohne daß man ihm eine höhere formale Autorität entgegen-
halten könnte. Beides ist richtig; aber aus der ersten These darf man nicht
schließen, das Völkerrecht sei ein positives Recht, aus der zweiten nicht,
es sei gar kein Recht. Es ist ein bloß postuliertes (nie inhaltlich bestimmtes)

III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
Verbindlichkeit eines Rechtssatzes nicht aus einer historischen
Tatsache, wie die Anerkennung der Staaten, erklärend ableiten,
sofern nicht bereits ein Rechtssatz jener Tatsache solche Be-
deutung beilegt. Die primäre Geltung des Rechts kann aber offen-
bar auf diesem Wege nicht gewonnen werden1.

Auch wenn also gewisse Grundsätze einmal allgemein aner-
kannt worden sind, folgt daraus nicht, daß jeder Staat sie auch
in Zukunft anzuerkennen habe. Der Streit darüber, ob sie die
richtigen (bzw. ob sie noch die richtigen) seien, kann (ohne Rechts-
bruch) jederzeit von neuem beginnen. Jeder Grundsatz, der
geübt worden ist, kann immer wieder in Frage gezogen werden;
er kann sich nicht formal, unter Berufung auf eine Autorität, er
muß sich durch seinen Inhalt, seine Vernünftigkeit legitimieren;
und darüber, was vernünftig ist, kann die Diskussion nie ge-
schlossen werden. Jedem Staate steht es frei, nachzuweisen, daß
ein anderer Grundsatz der Gerechtigkeit besser entspricht oder
jetzt, unter veränderten Umständen, besser entspricht als der
bisherige. Es „gilt“, was sich unter den jeweilen gegebenen Um-
ständen als Recht und gerecht erweist. Es ist ein stets neu zu
prüfendes, vernunftnotwendiges zwar, aber nie gegebenes Recht2.

1 Es handelt sich nicht darum, psychologisch zu erklären, wie ein
Rechtssatz im Laufe der Zeit, genetisch, als verbindlich angesehen werden
konnte, sondern wie die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes, der gilt,
rationell zu erklären ist.
2 Die „Rechtssätze“, die v. Liszt, Völkerrecht, 11. A., 59, aus dem
Grundgedanken der Völkerrechtsgemeinschaft ableiten möchte, sind reines
Naturrecht, wie Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918) 112, richtig
bemerkt. Der Streit darüber, ob das Völkerrecht wahres Recht sei, kommt
daher, daß es in der Tat nicht die Bedingungen eines positiven Rechts er-
füllt, daß das Postulat einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung aber doch
unabweisbar ist. Deshalb sagen die einen mit Recht, eine bloße internationale
Moral, ein Kodex von Klugheitsregeln der Staatspolitik oder gar die völlige
ethische Ungebundenheit seien unzulängliche Annahmen, da sich ein ge-
ordnetes Verhältnis der Staaten untereinander bei dieser Annahme nicht
denken lasse. Die anderen aber sagen mit ebensoviel Recht, das Recht,
das für die Staaten verbindlich sein solle, lasse sich nicht nachweisen; es
bleibe stets streitig, da jeder Staat schließlich selbst darüber entscheide,
was rechtens sei, ohne daß man ihm eine höhere formale Autorität entgegen-
halten könnte. Beides ist richtig; aber aus der ersten These darf man nicht
schließen, das Völkerrecht sei ein positives Recht, aus der zweiten nicht,
es sei gar kein Recht. Es ist ein bloß postuliertes (nie inhaltlich bestimmtes)
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[380/0395] III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung. Verbindlichkeit eines Rechtssatzes nicht aus einer historischen Tatsache, wie die Anerkennung der Staaten, erklärend ableiten, sofern nicht bereits ein Rechtssatz jener Tatsache solche Be- deutung beilegt. Die primäre Geltung des Rechts kann aber offen- bar auf diesem Wege nicht gewonnen werden 1. Auch wenn also gewisse Grundsätze einmal allgemein aner- kannt worden sind, folgt daraus nicht, daß jeder Staat sie auch in Zukunft anzuerkennen habe. Der Streit darüber, ob sie die richtigen (bzw. ob sie noch die richtigen) seien, kann (ohne Rechts- bruch) jederzeit von neuem beginnen. Jeder Grundsatz, der geübt worden ist, kann immer wieder in Frage gezogen werden; er kann sich nicht formal, unter Berufung auf eine Autorität, er muß sich durch seinen Inhalt, seine Vernünftigkeit legitimieren; und darüber, was vernünftig ist, kann die Diskussion nie ge- schlossen werden. Jedem Staate steht es frei, nachzuweisen, daß ein anderer Grundsatz der Gerechtigkeit besser entspricht oder jetzt, unter veränderten Umständen, besser entspricht als der bisherige. Es „gilt“, was sich unter den jeweilen gegebenen Um- ständen als Recht und gerecht erweist. Es ist ein stets neu zu prüfendes, vernunftnotwendiges zwar, aber nie gegebenes Recht 2. 1 Es handelt sich nicht darum, psychologisch zu erklären, wie ein Rechtssatz im Laufe der Zeit, genetisch, als verbindlich angesehen werden konnte, sondern wie die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes, der gilt, rationell zu erklären ist. 2 Die „Rechtssätze“, die v. Liszt, Völkerrecht, 11. A., 59, aus dem Grundgedanken der Völkerrechtsgemeinschaft ableiten möchte, sind reines Naturrecht, wie Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht (1918) 112, richtig bemerkt. Der Streit darüber, ob das Völkerrecht wahres Recht sei, kommt daher, daß es in der Tat nicht die Bedingungen eines positiven Rechts er- füllt, daß das Postulat einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung aber doch unabweisbar ist. Deshalb sagen die einen mit Recht, eine bloße internationale Moral, ein Kodex von Klugheitsregeln der Staatspolitik oder gar die völlige ethische Ungebundenheit seien unzulängliche Annahmen, da sich ein ge- ordnetes Verhältnis der Staaten untereinander bei dieser Annahme nicht denken lasse. Die anderen aber sagen mit ebensoviel Recht, das Recht, das für die Staaten verbindlich sein solle, lasse sich nicht nachweisen; es bleibe stets streitig, da jeder Staat schließlich selbst darüber entscheide, was rechtens sei, ohne daß man ihm eine höhere formale Autorität entgegen- halten könnte. Beides ist richtig; aber aus der ersten These darf man nicht schließen, das Völkerrecht sei ein positives Recht, aus der zweiten nicht, es sei gar kein Recht. Es ist ein bloß postuliertes (nie inhaltlich bestimmtes)

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/395>, abgerufen am 15.05.2024.