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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der
Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum-
rissene Schätzung.

Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann - durch Ge-
dankenassoziationen - in der Bevorzugung der "tiefen" Re-
gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein-
deuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines lite-
rarischen.

Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
die bedeutsameren.

Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das
volle Aufgehen in einer Stimmung.

Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si-
tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht,
wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken-
und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge-
setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl
in die Tiefe zu senken.

Hier bestätigt sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls
in dem vollständigen Erfassen einer jeden - selbst der
leichtfertigsten - Stimmung ihre Wurzeln hat, - im
Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang-
bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali-
siert.

In dem sogenannten " Champagnerlied " aus Don Gio-
vanni liegt mehr "Tiefe" als in manchem Trauermarsche
oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,

Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der
Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum-
rissene Schätzung.

Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch
Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann – durch Ge-
dankenassoziationen – in der Bevorzugung der „tiefen“ Re-
gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein-
deuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines lite-
rarischen.

Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese
die bedeutsameren.

Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der
Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das
volle Aufgehen in einer Stimmung.

Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si-
tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht,
wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken-
und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge-
setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen
und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl
in die Tiefe zu senken.

Hier bestätigt sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls
in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der
leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im
Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang-
bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite
des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali-
siert.

In dem sogenannten „ Champagnerlied “ aus Don Gio-
vanni liegt mehr „Tiefe“ als in manchem Trauermarsche
oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,

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[30/0030] Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum- rissene Schätzung. Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch Schwere zu erreichen: sie zeigt sich sodann – durch Ge- dankenassoziationen – in der Bevorzugung der „tiefen“ Re- gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein- deuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines lite- rarischen. Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese die bedeutsameren. Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das volle Aufgehen in einer Stimmung. Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si- tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken- und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge- setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl in die Tiefe zu senken. Hier bestätigt sich wieder, daß die Tiefe des Gefühls in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang- bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali- siert. In dem sogenannten „ Champagnerlied “ aus Don Gio- vanni liegt mehr „Tiefe“ als in manchem Trauermarsche oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin,

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/30>, abgerufen am 25.04.2024.