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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Organismus in seinen gesunden natürlichen Zustand keines¬
wegs allein bei eigentlichen Krankheiten hervortritt, sondern
daß es eben so bei jeder äußern Beschädigung sich geltend
macht. Eine Beschädigung, eine Verletzung, ein Knochen¬
bruch ist nämlich an sich keine Krankheit, d. h. es ist zwar eine
Kränkung des eigentlich dem Organismus angemessenen Le¬
bens, aber nicht in Folge einer eigenthümlichen fremden im
Organismus sich mit einlebenden Idee einer Krankheit, son¬
dern in Folge gewaltsamer Einwirkungen irgend einer Macht
der Außenwelt geradezu. Jedoch Beides, die Schädigung
wie die Krankheit verlangt nun, und regt an ein bestimm¬
tes Thun des beschädigten oder gekränkten Organismus.
Die Vorgänge, welche auch zur Wiederherstellung von einer
Beschädigung, im unbewußten Leben angewendet werden,
sind daher nicht weniger merkwürdig, als die der Heilwir¬
kung der unbewußten Psyche in wirklichen Krankheiten, ja
sie sind von einer Weisheit, die auf jedem Schritte den
Arzt, der ihr sorgfältig nachgeht, zur Bewunderung auf¬
fordert. Schon das einfache sich Schließen eines verletzten
Gefäßes und die Stillung der Blutung ist in dieser Be¬
ziehung ein höchst wichtiger Vorgang. Wie allmählig die
Strömung des Blutes in den verletzten Gefäßkanälen eine
andre Richtung annimmt und dadurch den Andrang gegen
die verletzten Stellen aufhebt, wie die Kanalwandung selbst
sich allmählig zusammenzieht, wie durch Coaguliren des
Blutes das eigne Gebilde entsteht, welches man den Trom¬
bus nennt, und wie nun eigne Vegetationsprozesse angeregt
werden durch deren Einfluß, ohne daß irgend etwas davon
zum Bewußtsein kommt, die Verschließung der Wunde beendigt
wird, während zugleich ganz neue Gefäßkanäle sich bilden,
und der vielleicht durch die Verletzung zuerst ganz unter¬
brochene Blutkreislauf in dem beschädigten Theile auf solche
Weise vollkommen sich herstellt, fordert zu den vielfältigsten
Betrachtungen auf. Mit ähnlicher Merkwürdigkeit geht vor
sich die Heilung eines Knochenbruchs, die Wiederanheilung

Organismus in ſeinen geſunden natürlichen Zuſtand keines¬
wegs allein bei eigentlichen Krankheiten hervortritt, ſondern
daß es eben ſo bei jeder äußern Beſchädigung ſich geltend
macht. Eine Beſchädigung, eine Verletzung, ein Knochen¬
bruch iſt nämlich an ſich keine Krankheit, d. h. es iſt zwar eine
Kränkung des eigentlich dem Organismus angemeſſenen Le¬
bens, aber nicht in Folge einer eigenthümlichen fremden im
Organismus ſich mit einlebenden Idee einer Krankheit, ſon¬
dern in Folge gewaltſamer Einwirkungen irgend einer Macht
der Außenwelt geradezu. Jedoch Beides, die Schädigung
wie die Krankheit verlangt nun, und regt an ein beſtimm¬
tes Thun des beſchädigten oder gekränkten Organismus.
Die Vorgänge, welche auch zur Wiederherſtellung von einer
Beſchädigung, im unbewußten Leben angewendet werden,
ſind daher nicht weniger merkwürdig, als die der Heilwir¬
kung der unbewußten Pſyche in wirklichen Krankheiten, ja
ſie ſind von einer Weisheit, die auf jedem Schritte den
Arzt, der ihr ſorgfältig nachgeht, zur Bewunderung auf¬
fordert. Schon das einfache ſich Schließen eines verletzten
Gefäßes und die Stillung der Blutung iſt in dieſer Be¬
ziehung ein höchſt wichtiger Vorgang. Wie allmählig die
Strömung des Blutes in den verletzten Gefäßkanälen eine
andre Richtung annimmt und dadurch den Andrang gegen
die verletzten Stellen aufhebt, wie die Kanalwandung ſelbſt
ſich allmählig zuſammenzieht, wie durch Coaguliren des
Blutes das eigne Gebilde entſteht, welches man den Trom¬
bus nennt, und wie nun eigne Vegetationsprozeſſe angeregt
werden durch deren Einfluß, ohne daß irgend etwas davon
zum Bewußtſein kommt, die Verſchließung der Wunde beendigt
wird, während zugleich ganz neue Gefäßkanäle ſich bilden,
und der vielleicht durch die Verletzung zuerſt ganz unter¬
brochene Blutkreislauf in dem beſchädigten Theile auf ſolche
Weiſe vollkommen ſich herſtellt, fordert zu den vielfältigſten
Betrachtungen auf. Mit ähnlicher Merkwürdigkeit geht vor
ſich die Heilung eines Knochenbruchs, die Wiederanheilung

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[94/0110] Organismus in ſeinen geſunden natürlichen Zuſtand keines¬ wegs allein bei eigentlichen Krankheiten hervortritt, ſondern daß es eben ſo bei jeder äußern Beſchädigung ſich geltend macht. Eine Beſchädigung, eine Verletzung, ein Knochen¬ bruch iſt nämlich an ſich keine Krankheit, d. h. es iſt zwar eine Kränkung des eigentlich dem Organismus angemeſſenen Le¬ bens, aber nicht in Folge einer eigenthümlichen fremden im Organismus ſich mit einlebenden Idee einer Krankheit, ſon¬ dern in Folge gewaltſamer Einwirkungen irgend einer Macht der Außenwelt geradezu. Jedoch Beides, die Schädigung wie die Krankheit verlangt nun, und regt an ein beſtimm¬ tes Thun des beſchädigten oder gekränkten Organismus. Die Vorgänge, welche auch zur Wiederherſtellung von einer Beſchädigung, im unbewußten Leben angewendet werden, ſind daher nicht weniger merkwürdig, als die der Heilwir¬ kung der unbewußten Pſyche in wirklichen Krankheiten, ja ſie ſind von einer Weisheit, die auf jedem Schritte den Arzt, der ihr ſorgfältig nachgeht, zur Bewunderung auf¬ fordert. Schon das einfache ſich Schließen eines verletzten Gefäßes und die Stillung der Blutung iſt in dieſer Be¬ ziehung ein höchſt wichtiger Vorgang. Wie allmählig die Strömung des Blutes in den verletzten Gefäßkanälen eine andre Richtung annimmt und dadurch den Andrang gegen die verletzten Stellen aufhebt, wie die Kanalwandung ſelbſt ſich allmählig zuſammenzieht, wie durch Coaguliren des Blutes das eigne Gebilde entſteht, welches man den Trom¬ bus nennt, und wie nun eigne Vegetationsprozeſſe angeregt werden durch deren Einfluß, ohne daß irgend etwas davon zum Bewußtſein kommt, die Verſchließung der Wunde beendigt wird, während zugleich ganz neue Gefäßkanäle ſich bilden, und der vielleicht durch die Verletzung zuerſt ganz unter¬ brochene Blutkreislauf in dem beſchädigten Theile auf ſolche Weiſe vollkommen ſich herſtellt, fordert zu den vielfältigſten Betrachtungen auf. Mit ähnlicher Merkwürdigkeit geht vor ſich die Heilung eines Knochenbruchs, die Wiederanheilung

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/110>, abgerufen am 28.04.2024.