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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Es muß hieran deutlich werden, daß so bestimmt auch
in abstracto der Unterschied der Idee an sich, und der zur
Seele entfalteten Idee, ausgesprochen werden kann, doch
in concreto es schlechterdings unmöglich sei, einen be¬
stimmten Zeitpunkt in der Entwicklungsgeschichte des ein¬
zelnen Geschöpfs, und also eben so wenig einen scharfen
Abschnitt in der Reihenfolge der Thiere festzustellen, allwo
die Wesenheit der Seele mit einem Male an der Idee her¬
vortrete. Ungefähr eben so können wir in der Geschichte
der Vegetation mit Bestimmtheit sagen, daß der Begriff
des Samenkorns ein andrer sei als der der Pflanze selbst,
und doch wenn wir nun ganz scharf angeben sollten, wo
bei dem Keimen des Samens der Begriff des Samens
aufhöre und der der Pflanze anfange, so würden wir ein
Unmögliches versuchen.

Dies Alles zusammen genommen gibt uns allerdings
zu erkennen, daß, wenn wir über Heranbildung der Seele
in den Thieren Untersuchungen anstellen wollen, wir nicht
so wohl glauben dürfen den Anfangspunkt der Mani¬
festationen des Bewußtseins selbst finden zu können, sondern
daß wir die Thatsachen eines unzweifelhaft bereits vorhan¬
denen Bewußtseins aufsuchen, und ihrer Verschiedenartigkeit
nach vergleichen müssen, um so ein deutliches Bild davon
zu erhalten wie verschiedenartig die Erscheinungen eines
Seelenlebens sein können, bevor doch in demselben mittels
einer höhern Concentration, die Offenbarung eines Selbst¬
bewußtseins, und mit ihr die Erschließung des Geistes
innerhalb des Seelenlebens zur Thatsache werde. Es muß
hier indeß gleich ebenfalls im Allgemeinen bemerkt werden,
daß es sich mit dem Hervorgehen des Selbstbewußtseins
aus dem Weltbewußtsein auch wie mit dem Hervorgehen
des letztern aus dem Unbewußtsein verhalte, nämlich daß
ganz scharf den Anfangspunkt dieser Entwicklung festzu¬
stellen unmöglich sei. Obwohl sich daher mit Bestimmtheit
aussprechen läßt: der selbstbewußte Geist werde erst dem

Es muß hieran deutlich werden, daß ſo beſtimmt auch
in abstracto der Unterſchied der Idee an ſich, und der zur
Seele entfalteten Idee, ausgeſprochen werden kann, doch
in concreto es ſchlechterdings unmöglich ſei, einen be¬
ſtimmten Zeitpunkt in der Entwicklungsgeſchichte des ein¬
zelnen Geſchöpfs, und alſo eben ſo wenig einen ſcharfen
Abſchnitt in der Reihenfolge der Thiere feſtzuſtellen, allwo
die Weſenheit der Seele mit einem Male an der Idee her¬
vortrete. Ungefähr eben ſo können wir in der Geſchichte
der Vegetation mit Beſtimmtheit ſagen, daß der Begriff
des Samenkorns ein andrer ſei als der der Pflanze ſelbſt,
und doch wenn wir nun ganz ſcharf angeben ſollten, wo
bei dem Keimen des Samens der Begriff des Samens
aufhöre und der der Pflanze anfange, ſo würden wir ein
Unmögliches verſuchen.

Dies Alles zuſammen genommen gibt uns allerdings
zu erkennen, daß, wenn wir über Heranbildung der Seele
in den Thieren Unterſuchungen anſtellen wollen, wir nicht
ſo wohl glauben dürfen den Anfangspunkt der Mani¬
feſtationen des Bewußtſeins ſelbſt finden zu können, ſondern
daß wir die Thatſachen eines unzweifelhaft bereits vorhan¬
denen Bewußtſeins aufſuchen, und ihrer Verſchiedenartigkeit
nach vergleichen müſſen, um ſo ein deutliches Bild davon
zu erhalten wie verſchiedenartig die Erſcheinungen eines
Seelenlebens ſein können, bevor doch in demſelben mittels
einer höhern Concentration, die Offenbarung eines Selbſt¬
bewußtſeins, und mit ihr die Erſchließung des Geiſtes
innerhalb des Seelenlebens zur Thatſache werde. Es muß
hier indeß gleich ebenfalls im Allgemeinen bemerkt werden,
daß es ſich mit dem Hervorgehen des Selbſtbewußtſeins
aus dem Weltbewußtſein auch wie mit dem Hervorgehen
des letztern aus dem Unbewußtſein verhalte, nämlich daß
ganz ſcharf den Anfangspunkt dieſer Entwicklung feſtzu¬
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[115/0131] Es muß hieran deutlich werden, daß ſo beſtimmt auch in abstracto der Unterſchied der Idee an ſich, und der zur Seele entfalteten Idee, ausgeſprochen werden kann, doch in concreto es ſchlechterdings unmöglich ſei, einen be¬ ſtimmten Zeitpunkt in der Entwicklungsgeſchichte des ein¬ zelnen Geſchöpfs, und alſo eben ſo wenig einen ſcharfen Abſchnitt in der Reihenfolge der Thiere feſtzuſtellen, allwo die Weſenheit der Seele mit einem Male an der Idee her¬ vortrete. Ungefähr eben ſo können wir in der Geſchichte der Vegetation mit Beſtimmtheit ſagen, daß der Begriff des Samenkorns ein andrer ſei als der der Pflanze ſelbſt, und doch wenn wir nun ganz ſcharf angeben ſollten, wo bei dem Keimen des Samens der Begriff des Samens aufhöre und der der Pflanze anfange, ſo würden wir ein Unmögliches verſuchen. Dies Alles zuſammen genommen gibt uns allerdings zu erkennen, daß, wenn wir über Heranbildung der Seele in den Thieren Unterſuchungen anſtellen wollen, wir nicht ſo wohl glauben dürfen den Anfangspunkt der Mani¬ feſtationen des Bewußtſeins ſelbſt finden zu können, ſondern daß wir die Thatſachen eines unzweifelhaft bereits vorhan¬ denen Bewußtſeins aufſuchen, und ihrer Verſchiedenartigkeit nach vergleichen müſſen, um ſo ein deutliches Bild davon zu erhalten wie verſchiedenartig die Erſcheinungen eines Seelenlebens ſein können, bevor doch in demſelben mittels einer höhern Concentration, die Offenbarung eines Selbſt¬ bewußtſeins, und mit ihr die Erſchließung des Geiſtes innerhalb des Seelenlebens zur Thatſache werde. Es muß hier indeß gleich ebenfalls im Allgemeinen bemerkt werden, daß es ſich mit dem Hervorgehen des Selbſtbewußtſeins aus dem Weltbewußtſein auch wie mit dem Hervorgehen des letztern aus dem Unbewußtſein verhalte, nämlich daß ganz ſcharf den Anfangspunkt dieſer Entwicklung feſtzu¬ ſtellen unmöglich ſei. Obwohl ſich daher mit Beſtimmtheit ausſprechen läßt: der ſelbſtbewußte Geiſt werde erſt dem

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/131>, abgerufen am 04.05.2024.