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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Ganz in gleicher Weise ergibt sich alsbald die Wahr¬
heit, daß die menschliche Seele nicht etwa zuerst bloß als
eine thierische sich verhalte und erst allmählig zur mensch¬
lichen werde, sondern immer wird sie in ihrem frühesten
Bethätigen sich sogleich als eine eigenthümliche und höhere
sicher erkennen lassen. Wie würde dann der Organismus
des werdenden Kindes ein so ganz anderer, wie würde ein
so eigenthümliches und schöneres Verhältniß vom Hirn und
Sinnesorganen und gesammter Gliederung sich entwickeln,
wenn nicht die noch absolut unbewußte so ganz andere und
höhere Idee an ihm sich dergestalt offenbarte! Wie vielmehr
muß, wenn die Idee zum Weltbewußtsein sich steigert, so¬
gleich ihre andre Wesenheit sich zu erkennen geben! Welche
ganz andere Eigenthümlichkeit haben daher schon die ersten
dunkeln Aeußerungen psychischen Lebens im Kinde, gegen
die des Thieres! Wie anders ist der erste auf die Mutter
gerichtete Blick des Auges, wie anders das erste um die
Lippen des Kindes spielende Lächeln! In Allem kündigt
sich an, es solle sich hier offenbaren ein im Gegensatz zur
Thierheit durchaus Neues -- ein Wesen durch wel¬
ches erst eigentlich das Erdleben geistigen
Werth
, geistige Bedeutung erhält 1 -- mit einem
Worte gleichsam der erste geistige Gedanke des Pla¬
neten
, das eigentliche Erwachen der Erde, ohne welches
alle ihre Erscheinungen im dumpfen schweren gleichgültigen
Schlafe befangen bleiben.

Ist somit die Idee des Menschen zuvörderst als eine
andere und durchaus neue anerkannt, so dürfen wir uns
nun zur Betrachtung der Art und Weise wenden, wie sie
allmählig hervortritt und auf welche Weise sie zur höchsten
Offenbarung ihres Wesens gelangt.

1 Man könnte die menschliche Individualität gar wohl der Zahl,
alle andere Individualität der Erde der Null vergleichen. Die letztere
allein, noch so gehäuft, bleibt immer null, während durch die Eins jede
Null als Decimalstelle eine bestimmte, und allemal eine besondere Deu¬
tung bekommt.

Ganz in gleicher Weiſe ergibt ſich alsbald die Wahr¬
heit, daß die menſchliche Seele nicht etwa zuerſt bloß als
eine thieriſche ſich verhalte und erſt allmählig zur menſch¬
lichen werde, ſondern immer wird ſie in ihrem früheſten
Bethätigen ſich ſogleich als eine eigenthümliche und höhere
ſicher erkennen laſſen. Wie würde dann der Organismus
des werdenden Kindes ein ſo ganz anderer, wie würde ein
ſo eigenthümliches und ſchöneres Verhältniß vom Hirn und
Sinnesorganen und geſammter Gliederung ſich entwickeln,
wenn nicht die noch abſolut unbewußte ſo ganz andere und
höhere Idee an ihm ſich dergeſtalt offenbarte! Wie vielmehr
muß, wenn die Idee zum Weltbewußtſein ſich ſteigert, ſo¬
gleich ihre andre Weſenheit ſich zu erkennen geben! Welche
ganz andere Eigenthümlichkeit haben daher ſchon die erſten
dunkeln Aeußerungen pſychiſchen Lebens im Kinde, gegen
die des Thieres! Wie anders iſt der erſte auf die Mutter
gerichtete Blick des Auges, wie anders das erſte um die
Lippen des Kindes ſpielende Lächeln! In Allem kündigt
ſich an, es ſolle ſich hier offenbaren ein im Gegenſatz zur
Thierheit durchaus Neuesein Weſen durch wel¬
ches erſt eigentlich das Erdleben geiſtigen
Werth
, geiſtige Bedeutung erhält 1 — mit einem
Worte gleichſam der erſte geiſtige Gedanke des Pla¬
neten
, das eigentliche Erwachen der Erde, ohne welches
alle ihre Erſcheinungen im dumpfen ſchweren gleichgültigen
Schlafe befangen bleiben.

Iſt ſomit die Idee des Menſchen zuvörderſt als eine
andere und durchaus neue anerkannt, ſo dürfen wir uns
nun zur Betrachtung der Art und Weiſe wenden, wie ſie
allmählig hervortritt und auf welche Weiſe ſie zur höchſten
Offenbarung ihres Weſens gelangt.

1 Man könnte die menſchliche Individualität gar wohl der Zahl,
alle andere Individualität der Erde der Null vergleichen. Die letztere
allein, noch ſo gehäuft, bleibt immer null, während durch die Eins jede
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tung bekommt.
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[152/0168] Ganz in gleicher Weiſe ergibt ſich alsbald die Wahr¬ heit, daß die menſchliche Seele nicht etwa zuerſt bloß als eine thieriſche ſich verhalte und erſt allmählig zur menſch¬ lichen werde, ſondern immer wird ſie in ihrem früheſten Bethätigen ſich ſogleich als eine eigenthümliche und höhere ſicher erkennen laſſen. Wie würde dann der Organismus des werdenden Kindes ein ſo ganz anderer, wie würde ein ſo eigenthümliches und ſchöneres Verhältniß vom Hirn und Sinnesorganen und geſammter Gliederung ſich entwickeln, wenn nicht die noch abſolut unbewußte ſo ganz andere und höhere Idee an ihm ſich dergeſtalt offenbarte! Wie vielmehr muß, wenn die Idee zum Weltbewußtſein ſich ſteigert, ſo¬ gleich ihre andre Weſenheit ſich zu erkennen geben! Welche ganz andere Eigenthümlichkeit haben daher ſchon die erſten dunkeln Aeußerungen pſychiſchen Lebens im Kinde, gegen die des Thieres! Wie anders iſt der erſte auf die Mutter gerichtete Blick des Auges, wie anders das erſte um die Lippen des Kindes ſpielende Lächeln! In Allem kündigt ſich an, es ſolle ſich hier offenbaren ein im Gegenſatz zur Thierheit durchaus Neues — ein Weſen durch wel¬ ches erſt eigentlich das Erdleben geiſtigen Werth, geiſtige Bedeutung erhält 1 — mit einem Worte gleichſam der erſte geiſtige Gedanke des Pla¬ neten, das eigentliche Erwachen der Erde, ohne welches alle ihre Erſcheinungen im dumpfen ſchweren gleichgültigen Schlafe befangen bleiben. Iſt ſomit die Idee des Menſchen zuvörderſt als eine andere und durchaus neue anerkannt, ſo dürfen wir uns nun zur Betrachtung der Art und Weiſe wenden, wie ſie allmählig hervortritt und auf welche Weiſe ſie zur höchſten Offenbarung ihres Weſens gelangt. 1 Man könnte die menſchliche Individualität gar wohl der Zahl, alle andere Individualität der Erde der Null vergleichen. Die letztere allein, noch ſo gehäuft, bleibt immer null, während durch die Eins jede Null als Decimalſtelle eine beſtimmte, und allemal eine beſondere Deu¬ tung bekommt.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/168>, abgerufen am 29.04.2024.