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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Von dem Momente an, daß daher auf solche Weise
in der als Seele entfalteten Idee der erste Gedanke ge¬
boren wird, von dem Momente an, daß somit der Geist
erschlossen ist in der Seele -- beginnt eine Entwicklung,
welche eben, weil die Seele nun nicht mehr bloß unbewußt,
als halb Vergangnes, halb Künftiges dahin zieht, sondern
weil sie fähig geworden ist die Gegenwart zu erfassen
und dadurch, im Festhalten des Moments die Zeit zu
überwinden
, auch nicht mehr eine bloß endliche, sondern
eine unendliche sein muß, da nur in einer solchen die Idee
ihre ursprünglich ewige göttliche Wesenheit vollkommen
bethätigen wird und kann.

Schon da wo von den Seelen der Thiere die Rede
war, ist angedeutet worden, theils daß die Entwicklung
des Geistes in ihrem positiven Fortschreiten gewissermaßen
die Geschichte des Organismus wiederholt, indem sie zu¬
nächst einer geistigen Pubertät entgegengeht, um sodann in
einer höhern Productivität sich mehr und mehr zu bethätigen,
theils daß sie negativ gegen gewisse frühere Offenbarungen
des Seelenlebens sich verhalten müsse. In letzterer Be¬
ziehung wurde schon erwähnt, daß eben aus dem Grunde
höherer Geistesentwicklung im Menschen, das Hervortreten
besondrer durch innere Nothwendigkeit gebotner Triebe im
hohen Grade beschränkt sein muß, und daß daher von
Kunsttrieben und Wanderungstrieben hier nicht mehr
die Rede sein kann; späterhin müssen sich dagegen noch
manche Betrachtungen darüber anschließen, wie auch das
was wir die Naturtriebe genannt haben, auf gleiche
Weise wie das unbewußte Fortbilden der Organisation selbst,
von der höhern Fortbildung des Geistes auf eigenthümliche
Weise influenzirt und erhoben werden kann.

Was gegenwärtig die Entwicklung des Geistes an und
für sich betrifft, so unterschieden wir schon früher drei Perioden
derselben: die erste die des Verstandes, die zweite die
der Phantasie, die dritte die der Vernunft. Hier ist

Von dem Momente an, daß daher auf ſolche Weiſe
in der als Seele entfalteten Idee der erſte Gedanke ge¬
boren wird, von dem Momente an, daß ſomit der Geiſt
erſchloſſen iſt in der Seele — beginnt eine Entwicklung,
welche eben, weil die Seele nun nicht mehr bloß unbewußt,
als halb Vergangnes, halb Künftiges dahin zieht, ſondern
weil ſie fähig geworden iſt die Gegenwart zu erfaſſen
und dadurch, im Feſthalten des Moments die Zeit zu
überwinden
, auch nicht mehr eine bloß endliche, ſondern
eine unendliche ſein muß, da nur in einer ſolchen die Idee
ihre urſprünglich ewige göttliche Weſenheit vollkommen
bethätigen wird und kann.

Schon da wo von den Seelen der Thiere die Rede
war, iſt angedeutet worden, theils daß die Entwicklung
des Geiſtes in ihrem poſitiven Fortſchreiten gewiſſermaßen
die Geſchichte des Organismus wiederholt, indem ſie zu¬
nächſt einer geiſtigen Pubertät entgegengeht, um ſodann in
einer höhern Productivität ſich mehr und mehr zu bethätigen,
theils daß ſie negativ gegen gewiſſe frühere Offenbarungen
des Seelenlebens ſich verhalten müſſe. In letzterer Be¬
ziehung wurde ſchon erwähnt, daß eben aus dem Grunde
höherer Geiſtesentwicklung im Menſchen, das Hervortreten
beſondrer durch innere Nothwendigkeit gebotner Triebe im
hohen Grade beſchränkt ſein muß, und daß daher von
Kunſttrieben und Wanderungstrieben hier nicht mehr
die Rede ſein kann; ſpäterhin müſſen ſich dagegen noch
manche Betrachtungen darüber anſchließen, wie auch das
was wir die Naturtriebe genannt haben, auf gleiche
Weiſe wie das unbewußte Fortbilden der Organiſation ſelbſt,
von der höhern Fortbildung des Geiſtes auf eigenthümliche
Weiſe influenzirt und erhoben werden kann.

Was gegenwärtig die Entwicklung des Geiſtes an und
für ſich betrifft, ſo unterſchieden wir ſchon früher drei Perioden
derſelben: die erſte die des Verſtandes, die zweite die
der Phantaſie, die dritte die der Vernunft. Hier iſt

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[160/0176] Von dem Momente an, daß daher auf ſolche Weiſe in der als Seele entfalteten Idee der erſte Gedanke ge¬ boren wird, von dem Momente an, daß ſomit der Geiſt erſchloſſen iſt in der Seele — beginnt eine Entwicklung, welche eben, weil die Seele nun nicht mehr bloß unbewußt, als halb Vergangnes, halb Künftiges dahin zieht, ſondern weil ſie fähig geworden iſt die Gegenwart zu erfaſſen und dadurch, im Feſthalten des Moments die Zeit zu überwinden, auch nicht mehr eine bloß endliche, ſondern eine unendliche ſein muß, da nur in einer ſolchen die Idee ihre urſprünglich ewige göttliche Weſenheit vollkommen bethätigen wird und kann. Schon da wo von den Seelen der Thiere die Rede war, iſt angedeutet worden, theils daß die Entwicklung des Geiſtes in ihrem poſitiven Fortſchreiten gewiſſermaßen die Geſchichte des Organismus wiederholt, indem ſie zu¬ nächſt einer geiſtigen Pubertät entgegengeht, um ſodann in einer höhern Productivität ſich mehr und mehr zu bethätigen, theils daß ſie negativ gegen gewiſſe frühere Offenbarungen des Seelenlebens ſich verhalten müſſe. In letzterer Be¬ ziehung wurde ſchon erwähnt, daß eben aus dem Grunde höherer Geiſtesentwicklung im Menſchen, das Hervortreten beſondrer durch innere Nothwendigkeit gebotner Triebe im hohen Grade beſchränkt ſein muß, und daß daher von Kunſttrieben und Wanderungstrieben hier nicht mehr die Rede ſein kann; ſpäterhin müſſen ſich dagegen noch manche Betrachtungen darüber anſchließen, wie auch das was wir die Naturtriebe genannt haben, auf gleiche Weiſe wie das unbewußte Fortbilden der Organiſation ſelbſt, von der höhern Fortbildung des Geiſtes auf eigenthümliche Weiſe influenzirt und erhoben werden kann. Was gegenwärtig die Entwicklung des Geiſtes an und für ſich betrifft, ſo unterſchieden wir ſchon früher drei Perioden derſelben: die erſte die des Verſtandes, die zweite die der Phantaſie, die dritte die der Vernunft. Hier iſt

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/176>, abgerufen am 29.04.2024.