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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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lassen. -- Wir betrachten es daher billig als erste Bedingung
und als wesentlichste Aufgabe bei der weitern Verfolgung
der Entwicklung des Geistes, daß stets festgehalten werde
wie die Seele in sich als Gottgedanke, als göttliche Idee,
nur ein Ganzes und Untheilbares sei, wie jede besondre
neue Entwicklung derselben immer die vorhergehende in sich
begreife und umfasse, und wie zwar die mannichfaltigsten
Metamorphosen und die verschiedensten Richtungen zur Offen¬
barung ihres Wesens gehören, eben weil sie selbst ein
Göttliches und Unendliches ist und weil sie deßhalb nie
ihrem Wesen in einer Richtung vollkommen genug thun
kann, wie aber nichts desto weniger sie durch und durch
ein einiges untheilbares Ganzes bleibe.

Diese Aufgabe ist an sich schwer genug zu erfüllen,
und wenn van Helmont erzählt, er habe, durch einen
Traum veranlaßt, drei und zwanzig Jahre in Sehnsucht
zugebracht seine Seele zu schauen, bis ihm endlich in einem
Momente das Glück geworden sei, sie als leuchtende ätherische
in einer seltsamen Hülle eingeschlossene Gestalt zu erblicken,
so mag man dieses sein Schauen zwar zuletzt in die Reihe
der Hallucinationen versetzen, aber nichts desto weniger doch
in diesem Sehnen ein Gleichniß finden, wie lange und an¬
haltend in gewissen Richtungen der Geist in seine eigne
Welt schauen muß, wenn ihm von gewissen Erkenntnissen
das volle Licht aufgehen soll.

Von Jedem also, dem auch deutlich zur Erkenntniß
kommen soll, wie in der Einheit der höher entfalteten Seele
zugleich eine Vielheit vorhanden sein müsse, wird es un¬
umgänglich verlangt, daß er eines solchen Schauens sich
befleißige, und nur bei voller Sammlung des Geistes wird
hier wie anderwärts alle Dunkelheit sich verlieren. Das
Erste und Unerläßlichste aber, was nun insbesondre vom
Geist begriffen werden soll, ist, daß derjenige Höhenpunkt
der Seele, auf welchem sie Geist wird, keinesweges aus¬
schließt, das, was wir in ebendemselben Einen früher als

laſſen. — Wir betrachten es daher billig als erſte Bedingung
und als weſentlichſte Aufgabe bei der weitern Verfolgung
der Entwicklung des Geiſtes, daß ſtets feſtgehalten werde
wie die Seele in ſich als Gottgedanke, als göttliche Idee,
nur ein Ganzes und Untheilbares ſei, wie jede beſondre
neue Entwicklung derſelben immer die vorhergehende in ſich
begreife und umfaſſe, und wie zwar die mannichfaltigſten
Metamorphoſen und die verſchiedenſten Richtungen zur Offen¬
barung ihres Weſens gehören, eben weil ſie ſelbſt ein
Göttliches und Unendliches iſt und weil ſie deßhalb nie
ihrem Weſen in einer Richtung vollkommen genug thun
kann, wie aber nichts deſto weniger ſie durch und durch
ein einiges untheilbares Ganzes bleibe.

Dieſe Aufgabe iſt an ſich ſchwer genug zu erfüllen,
und wenn van Helmont erzählt, er habe, durch einen
Traum veranlaßt, drei und zwanzig Jahre in Sehnſucht
zugebracht ſeine Seele zu ſchauen, bis ihm endlich in einem
Momente das Glück geworden ſei, ſie als leuchtende ätheriſche
in einer ſeltſamen Hülle eingeſchloſſene Geſtalt zu erblicken,
ſo mag man dieſes ſein Schauen zwar zuletzt in die Reihe
der Hallucinationen verſetzen, aber nichts deſto weniger doch
in dieſem Sehnen ein Gleichniß finden, wie lange und an¬
haltend in gewiſſen Richtungen der Geiſt in ſeine eigne
Welt ſchauen muß, wenn ihm von gewiſſen Erkenntniſſen
das volle Licht aufgehen ſoll.

Von Jedem alſo, dem auch deutlich zur Erkenntniß
kommen ſoll, wie in der Einheit der höher entfalteten Seele
zugleich eine Vielheit vorhanden ſein müſſe, wird es un¬
umgänglich verlangt, daß er eines ſolchen Schauens ſich
befleißige, und nur bei voller Sammlung des Geiſtes wird
hier wie anderwärts alle Dunkelheit ſich verlieren. Das
Erſte und Unerläßlichſte aber, was nun insbeſondre vom
Geiſt begriffen werden ſoll, iſt, daß derjenige Höhenpunkt
der Seele, auf welchem ſie Geiſt wird, keinesweges aus¬
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[162/0178] laſſen. — Wir betrachten es daher billig als erſte Bedingung und als weſentlichſte Aufgabe bei der weitern Verfolgung der Entwicklung des Geiſtes, daß ſtets feſtgehalten werde wie die Seele in ſich als Gottgedanke, als göttliche Idee, nur ein Ganzes und Untheilbares ſei, wie jede beſondre neue Entwicklung derſelben immer die vorhergehende in ſich begreife und umfaſſe, und wie zwar die mannichfaltigſten Metamorphoſen und die verſchiedenſten Richtungen zur Offen¬ barung ihres Weſens gehören, eben weil ſie ſelbſt ein Göttliches und Unendliches iſt und weil ſie deßhalb nie ihrem Weſen in einer Richtung vollkommen genug thun kann, wie aber nichts deſto weniger ſie durch und durch ein einiges untheilbares Ganzes bleibe. Dieſe Aufgabe iſt an ſich ſchwer genug zu erfüllen, und wenn van Helmont erzählt, er habe, durch einen Traum veranlaßt, drei und zwanzig Jahre in Sehnſucht zugebracht ſeine Seele zu ſchauen, bis ihm endlich in einem Momente das Glück geworden ſei, ſie als leuchtende ätheriſche in einer ſeltſamen Hülle eingeſchloſſene Geſtalt zu erblicken, ſo mag man dieſes ſein Schauen zwar zuletzt in die Reihe der Hallucinationen verſetzen, aber nichts deſto weniger doch in dieſem Sehnen ein Gleichniß finden, wie lange und an¬ haltend in gewiſſen Richtungen der Geiſt in ſeine eigne Welt ſchauen muß, wenn ihm von gewiſſen Erkenntniſſen das volle Licht aufgehen ſoll. Von Jedem alſo, dem auch deutlich zur Erkenntniß kommen ſoll, wie in der Einheit der höher entfalteten Seele zugleich eine Vielheit vorhanden ſein müſſe, wird es un¬ umgänglich verlangt, daß er eines ſolchen Schauens ſich befleißige, und nur bei voller Sammlung des Geiſtes wird hier wie anderwärts alle Dunkelheit ſich verlieren. Das Erſte und Unerläßlichſte aber, was nun insbeſondre vom Geiſt begriffen werden ſoll, iſt, daß derjenige Höhenpunkt der Seele, auf welchem ſie Geiſt wird, keinesweges aus¬ ſchließt, das, was wir in ebendemſelben Einen früher als

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/178>, abgerufen am 29.04.2024.