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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Indeß auch nicht bloß die eigentlichen Sinnesvorstel¬
lungen, wodurch für uns eine Außenwelt zuerst eigentlich
entsteht, sondern auch alle die unzähligen Empfindungen
und Gefühle, von den verschiedenen Zuständen und Stim¬
mungen, von Lust und Unlust unsers gesammten Daseins,
entstehen auf die Weise, daß Zustände des Unbewu߬
ten
vom Nervensystem aufgenommen und so erst zu einem
gewissen Bewußtsein gebracht werden. So entsteht also
das, wodurch all unser bewußtes Leben so unendlich mo¬
dificirt wird, das was wir Gefühle, Gemüthsbewegungen
und zuhöchst Leidenschaften nennen, Regungen ohne welche
dem Seelenleben so zu sagen die Farbe, das innere Prin¬
cip der Bewegung fehlen würde, alles dies wird ganz
wesentlich vom Unbewußten bedingt. Wir haben nämlich
früher schon bemerkt, daß der Mensch nicht bloß dadurch
ein Mikrokosmus ist, daß er durch ein unermeßliches Setzen
und Wiederholen der ersten Monas, der ersten Eizelle, als
ein in dieser Beziehung unermeßlicher Zellenbau erscheint,
sondern auch dadurch, daß er in eine gewisse Zahl unter¬
geordneter Lebenkreise, organischer Systeme sich gliedert, in
deren jedem sich wieder eine eigenthümliche untergeordnete
Lebensidee bethätigt, so der Lebenkreis der Ernährung, der
Athmung, der Absonderung, des Geschlechts u. s. w. Alle
diese aber sind in sich unbewußt, aber haben nichts desto
weniger ihre eigenthümliche seelische Seite, ihre psychische
Signatur, und diese ist es, welche in ihren verschiedenen
Stimmungen dadurch in das Seelenleben und selbst in
das Bewußtsein mit eingeht, daß jenes eigentlich seelische
System, das Nervensystem, sie mit seinen Leitungsfasern
durchdringt und somit ihr besondres Leben mit in den höch¬
sten Lebenkreis d. h. in das bewußte Erkennen des Indi¬
viduums einführt. Jede besondre Stimmung einer dieser
untergeordneten Sphären wird also auf diese Weise im
Bewußtsein wiederklingen; der aufgeregte Zustand der Er¬
nährungssysteme, auf eine andre Weise als der der Sphäre

Carus, Psyche. 13

Indeß auch nicht bloß die eigentlichen Sinnesvorſtel¬
lungen, wodurch für uns eine Außenwelt zuerſt eigentlich
entſteht, ſondern auch alle die unzähligen Empfindungen
und Gefühle, von den verſchiedenen Zuſtänden und Stim¬
mungen, von Luſt und Unluſt unſers geſammten Daſeins,
entſtehen auf die Weiſe, daß Zuſtände des Unbewu߬
ten
vom Nervenſyſtem aufgenommen und ſo erſt zu einem
gewiſſen Bewußtſein gebracht werden. So entſteht alſo
das, wodurch all unſer bewußtes Leben ſo unendlich mo¬
dificirt wird, das was wir Gefühle, Gemüthsbewegungen
und zuhöchſt Leidenſchaften nennen, Regungen ohne welche
dem Seelenleben ſo zu ſagen die Farbe, das innere Prin¬
cip der Bewegung fehlen würde, alles dies wird ganz
weſentlich vom Unbewußten bedingt. Wir haben nämlich
früher ſchon bemerkt, daß der Menſch nicht bloß dadurch
ein Mikrokosmus iſt, daß er durch ein unermeßliches Setzen
und Wiederholen der erſten Monas, der erſten Eizelle, als
ein in dieſer Beziehung unermeßlicher Zellenbau erſcheint,
ſondern auch dadurch, daß er in eine gewiſſe Zahl unter¬
geordneter Lebenkreiſe, organiſcher Syſteme ſich gliedert, in
deren jedem ſich wieder eine eigenthümliche untergeordnete
Lebensidee bethätigt, ſo der Lebenkreis der Ernährung, der
Athmung, der Abſonderung, des Geſchlechts u. ſ. w. Alle
dieſe aber ſind in ſich unbewußt, aber haben nichts deſto
weniger ihre eigenthümliche ſeeliſche Seite, ihre pſychiſche
Signatur, und dieſe iſt es, welche in ihren verſchiedenen
Stimmungen dadurch in das Seelenleben und ſelbſt in
das Bewußtſein mit eingeht, daß jenes eigentlich ſeeliſche
Syſtem, das Nervenſyſtem, ſie mit ſeinen Leitungsfaſern
durchdringt und ſomit ihr beſondres Leben mit in den höch¬
ſten Lebenkreis d. h. in das bewußte Erkennen des Indi¬
viduums einführt. Jede beſondre Stimmung einer dieſer
untergeordneten Sphären wird alſo auf dieſe Weiſe im
Bewußtſein wiederklingen; der aufgeregte Zuſtand der Er¬
nährungsſyſteme, auf eine andre Weiſe als der der Sphäre

Carus, Pſyche. 13
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[193/0209] Indeß auch nicht bloß die eigentlichen Sinnesvorſtel¬ lungen, wodurch für uns eine Außenwelt zuerſt eigentlich entſteht, ſondern auch alle die unzähligen Empfindungen und Gefühle, von den verſchiedenen Zuſtänden und Stim¬ mungen, von Luſt und Unluſt unſers geſammten Daſeins, entſtehen auf die Weiſe, daß Zuſtände des Unbewu߬ ten vom Nervenſyſtem aufgenommen und ſo erſt zu einem gewiſſen Bewußtſein gebracht werden. So entſteht alſo das, wodurch all unſer bewußtes Leben ſo unendlich mo¬ dificirt wird, das was wir Gefühle, Gemüthsbewegungen und zuhöchſt Leidenſchaften nennen, Regungen ohne welche dem Seelenleben ſo zu ſagen die Farbe, das innere Prin¬ cip der Bewegung fehlen würde, alles dies wird ganz weſentlich vom Unbewußten bedingt. Wir haben nämlich früher ſchon bemerkt, daß der Menſch nicht bloß dadurch ein Mikrokosmus iſt, daß er durch ein unermeßliches Setzen und Wiederholen der erſten Monas, der erſten Eizelle, als ein in dieſer Beziehung unermeßlicher Zellenbau erſcheint, ſondern auch dadurch, daß er in eine gewiſſe Zahl unter¬ geordneter Lebenkreiſe, organiſcher Syſteme ſich gliedert, in deren jedem ſich wieder eine eigenthümliche untergeordnete Lebensidee bethätigt, ſo der Lebenkreis der Ernährung, der Athmung, der Abſonderung, des Geſchlechts u. ſ. w. Alle dieſe aber ſind in ſich unbewußt, aber haben nichts deſto weniger ihre eigenthümliche ſeeliſche Seite, ihre pſychiſche Signatur, und dieſe iſt es, welche in ihren verſchiedenen Stimmungen dadurch in das Seelenleben und ſelbſt in das Bewußtſein mit eingeht, daß jenes eigentlich ſeeliſche Syſtem, das Nervenſyſtem, ſie mit ſeinen Leitungsfaſern durchdringt und ſomit ihr beſondres Leben mit in den höch¬ ſten Lebenkreis d. h. in das bewußte Erkennen des Indi¬ viduums einführt. Jede beſondre Stimmung einer dieſer untergeordneten Sphären wird alſo auf dieſe Weiſe im Bewußtſein wiederklingen; der aufgeregte Zuſtand der Er¬ nährungsſyſteme, auf eine andre Weiſe als der der Sphäre Carus, Pſyche. 13

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/209>, abgerufen am 29.04.2024.