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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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sich schließe, und daß es ein höchst unphilosophischer Satz
sei, wenn gesagt wird: "Es muß Aergerniß kommen, aber
wehe dem, durch den Aergerniß kommt!" Eben so daher,
wie vor dem höhern physiologischen Blicke auf das Universum,
trotz alles Strebens der Einzelnen, der Begriff des Todes
nicht bestehen kann, sondern nur ein allgemeines Leben er¬
kannt wird, so verschwindet auch im Lichte jener Erkenntniß
nicht nur das Böse, als besonderes dämonisches Princip,
als Satan, sondern auch, trotz aller unglücklichen Thaten
der Einzelnen, hört der Begriff eines besondern Sünd¬
haften
, eines besondern hassenswerthen Negativen -- der
Sünde -- auf. Der so erleuchteten Seele erscheint nirgends
mehr ein wirkliches an sich hassenswerthes Object -- und
aller Haß löst sich in erbarmende Liebe. -- Das Steigern
zu solcher Erkenntniß scheint in der Menschheit erst mit
Christus aufgegangen zu sein, und diese ganz eigentliche
große Erlösung -- diese Erlösung vom Begriffe des Bösen
und vom Haß, von ihr kann noch in der Folgezeit manch'
großes Resultat erwartet werden; denn je mehr erkannt
wird, wie die meiste Noth der Menschheit, und Alles, was
im Einzelnen den Namen des Sündhaften erhält, theils
von unvollkommenen Verhältnissen des Vereinlebens, theils
von Verwilderung der Erkenntniß und des Gefühls abhängt,
und wie nothwendig, aber freilich auch um so mehr be¬
dauernswerth, bisher das Elend aus jenen Bedingungen
hervorgehen mußte, um so mehr wird eine Annäherung zu
allgemeiner Glückseeligkeit von Fortbildung jener Erkenntniß
erwartet werden dürfen. Ganz das umgekehrte Resultat
geht dagegen aus einer entgegengesetzten Ansicht hervor.
Allerdings nämlich ist es eben so möglich, daß wir, wie
man bei einer vereinzelten Naturbetrachtung etwa auf den
finstern Gedanken von alleiniger Macht des Todes und all¬
gemeinem Sterben kommen muß, -- indem das immer neue
Werden auch das immer wiederkehrende Aufhören des Ge¬

erſcheinen, als nothwendige Bedingungen des Ganzen in
ſich ſchließe, und daß es ein höchſt unphiloſophiſcher Satz
ſei, wenn geſagt wird: „Es muß Aergerniß kommen, aber
wehe dem, durch den Aergerniß kommt!“ Eben ſo daher,
wie vor dem höhern phyſiologiſchen Blicke auf das Univerſum,
trotz alles Strebens der Einzelnen, der Begriff des Todes
nicht beſtehen kann, ſondern nur ein allgemeines Leben er¬
kannt wird, ſo verſchwindet auch im Lichte jener Erkenntniß
nicht nur das Böſe, als beſonderes dämoniſches Princip,
als Satan, ſondern auch, trotz aller unglücklichen Thaten
der Einzelnen, hört der Begriff eines beſondern Sünd¬
haften
, eines beſondern haſſenswerthen Negativen — der
Sünde — auf. Der ſo erleuchteten Seele erſcheint nirgends
mehr ein wirkliches an ſich haſſenswerthes Object — und
aller Haß löst ſich in erbarmende Liebe. — Das Steigern
zu ſolcher Erkenntniß ſcheint in der Menſchheit erſt mit
Chriſtus aufgegangen zu ſein, und dieſe ganz eigentliche
große Erlöſung — dieſe Erlöſung vom Begriffe des Böſen
und vom Haß, von ihr kann noch in der Folgezeit manch'
großes Reſultat erwartet werden; denn je mehr erkannt
wird, wie die meiſte Noth der Menſchheit, und Alles, was
im Einzelnen den Namen des Sündhaften erhält, theils
von unvollkommenen Verhältniſſen des Vereinlebens, theils
von Verwilderung der Erkenntniß und des Gefühls abhängt,
und wie nothwendig, aber freilich auch um ſo mehr be¬
dauernswerth, bisher das Elend aus jenen Bedingungen
hervorgehen mußte, um ſo mehr wird eine Annäherung zu
allgemeiner Glückſeeligkeit von Fortbildung jener Erkenntniß
erwartet werden dürfen. Ganz das umgekehrte Reſultat
geht dagegen aus einer entgegengeſetzten Anſicht hervor.
Allerdings nämlich iſt es eben ſo möglich, daß wir, wie
man bei einer vereinzelten Naturbetrachtung etwa auf den
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[318/0334] erſcheinen, als nothwendige Bedingungen des Ganzen in ſich ſchließe, und daß es ein höchſt unphiloſophiſcher Satz ſei, wenn geſagt wird: „Es muß Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den Aergerniß kommt!“ Eben ſo daher, wie vor dem höhern phyſiologiſchen Blicke auf das Univerſum, trotz alles Strebens der Einzelnen, der Begriff des Todes nicht beſtehen kann, ſondern nur ein allgemeines Leben er¬ kannt wird, ſo verſchwindet auch im Lichte jener Erkenntniß nicht nur das Böſe, als beſonderes dämoniſches Princip, als Satan, ſondern auch, trotz aller unglücklichen Thaten der Einzelnen, hört der Begriff eines beſondern Sünd¬ haften, eines beſondern haſſenswerthen Negativen — der Sünde — auf. Der ſo erleuchteten Seele erſcheint nirgends mehr ein wirkliches an ſich haſſenswerthes Object — und aller Haß löst ſich in erbarmende Liebe. — Das Steigern zu ſolcher Erkenntniß ſcheint in der Menſchheit erſt mit Chriſtus aufgegangen zu ſein, und dieſe ganz eigentliche große Erlöſung — dieſe Erlöſung vom Begriffe des Böſen und vom Haß, von ihr kann noch in der Folgezeit manch' großes Reſultat erwartet werden; denn je mehr erkannt wird, wie die meiſte Noth der Menſchheit, und Alles, was im Einzelnen den Namen des Sündhaften erhält, theils von unvollkommenen Verhältniſſen des Vereinlebens, theils von Verwilderung der Erkenntniß und des Gefühls abhängt, und wie nothwendig, aber freilich auch um ſo mehr be¬ dauernswerth, bisher das Elend aus jenen Bedingungen hervorgehen mußte, um ſo mehr wird eine Annäherung zu allgemeiner Glückſeeligkeit von Fortbildung jener Erkenntniß erwartet werden dürfen. Ganz das umgekehrte Reſultat geht dagegen aus einer entgegengeſetzten Anſicht hervor. Allerdings nämlich iſt es eben ſo möglich, daß wir, wie man bei einer vereinzelten Naturbetrachtung etwa auf den finſtern Gedanken von alleiniger Macht des Todes und all¬ gemeinem Sterben kommen muß, — indem das immer neue Werden auch das immer wiederkehrende Aufhören des Ge¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/334>, abgerufen am 01.05.2024.