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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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nur nicht ins Ungemessene fort ausführen, was wir wollen,
sondern selbst anhaltend fort zu wollen ist uns versagt
wegen des immer wieder eintretenden Zurücksinkens alles
bewußten Lebens ins Unbewußte. Es führt daher zu eigenen
Betrachtungen, wenn man bedenkt, wie dieses Fesseln des
Willens dann auch selbst in die Traumwelt übergeht, und
nichts häufiger in dieser Nachtseite des Seelenlebens vor¬
kommt, als irgend ein vergebliches Bestreben, ein sich frei
machen Wollen und nicht Können, ein ängstliches Bedrängt¬
sein bei Unmöglichkeit sich zu lösen u. s. w. -- Achtet man,
sage ich, recht auf alle diese sonderbaren Erscheinungen
unsers Innern, so kann es kaum zweifelhaft sein, daß schon
in jener uns so eigenthümlich bewegenden Mythe vom ge¬
fesselten Prometheus nichts Anderes gemeint sei, als dieses
Ringen der Seele, als diese Qual eines doch in so vielen
Beziehungen gehemmten, gebundenen Willens. 1 Daher das
hohe Pathos dieser Mythe, in welcher es im Bilde anschau¬
lich wird, wie der eigenthümliche göttliche vorausschauende
Geist des Menschen, in seiner Gebundenheit an das starre
Naturgesetz, qualvoll im Innern sich abmüht, bis durch
höhere Einwirkung der zerfleischende Adler getödtet und in
der Entwicklung des Geistes zur Höhe vollendeten Erkennt¬
nisses, im freien Schauen des Göttlichen, der Prometheus
seiner Fesseln enthoben und unter die Seeligen geführt wird.
Wollen wir uns hier zuvörderst mit der Entwicklungs¬
geschichte des Willens beschäftigen, so kann darunter nur
verstanden werden das Hervorgehen desselben aus dem zu¬
erst ganz willenlosen Zustande der Seele, und dessen all¬
mählige Hinaufbildung zum freien Willen. Hiebei bedarf
es jedoch zuvörderst noch der genauern Bestimmung über
das, was wir freien Willen zu nennen berechtigt sind.
Schon die vorhergehenden Betrachtungen über die vielfälti¬
gen Beschränkungen und Hemmungen menschlichen Wollens

1 "Tief nachsinnend nag' ich wund mein Herz!" sagt Prometheus
bei Aeschylus (der gefesselte Prometheus V. 435.)

nur nicht ins Ungemeſſene fort ausführen, was wir wollen,
ſondern ſelbſt anhaltend fort zu wollen iſt uns verſagt
wegen des immer wieder eintretenden Zurückſinkens alles
bewußten Lebens ins Unbewußte. Es führt daher zu eigenen
Betrachtungen, wenn man bedenkt, wie dieſes Feſſeln des
Willens dann auch ſelbſt in die Traumwelt übergeht, und
nichts häufiger in dieſer Nachtſeite des Seelenlebens vor¬
kommt, als irgend ein vergebliches Beſtreben, ein ſich frei
machen Wollen und nicht Können, ein ängſtliches Bedrängt¬
ſein bei Unmöglichkeit ſich zu löſen u. ſ. w. — Achtet man,
ſage ich, recht auf alle dieſe ſonderbaren Erſcheinungen
unſers Innern, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein, daß ſchon
in jener uns ſo eigenthümlich bewegenden Mythe vom ge¬
feſſelten Prometheus nichts Anderes gemeint ſei, als dieſes
Ringen der Seele, als dieſe Qual eines doch in ſo vielen
Beziehungen gehemmten, gebundenen Willens. 1 Daher das
hohe Pathos dieſer Mythe, in welcher es im Bilde anſchau¬
lich wird, wie der eigenthümliche göttliche vorausſchauende
Geiſt des Menſchen, in ſeiner Gebundenheit an das ſtarre
Naturgeſetz, qualvoll im Innern ſich abmüht, bis durch
höhere Einwirkung der zerfleiſchende Adler getödtet und in
der Entwicklung des Geiſtes zur Höhe vollendeten Erkennt¬
niſſes, im freien Schauen des Göttlichen, der Prometheus
ſeiner Feſſeln enthoben und unter die Seeligen geführt wird.
Wollen wir uns hier zuvörderſt mit der Entwicklungs¬
geſchichte des Willens beſchäftigen, ſo kann darunter nur
verſtanden werden das Hervorgehen deſſelben aus dem zu¬
erſt ganz willenloſen Zuſtande der Seele, und deſſen all¬
mählige Hinaufbildung zum freien Willen. Hiebei bedarf
es jedoch zuvörderſt noch der genauern Beſtimmung über
das, was wir freien Willen zu nennen berechtigt ſind.
Schon die vorhergehenden Betrachtungen über die vielfälti¬
gen Beſchränkungen und Hemmungen menſchlichen Wollens

1 „Tief nachſinnend nag' ich wund mein Herz!“ ſagt Prometheus
bei Aeſchylus (der gefeſſelte Prometheus V. 435.)
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[357/0373] nur nicht ins Ungemeſſene fort ausführen, was wir wollen, ſondern ſelbſt anhaltend fort zu wollen iſt uns verſagt wegen des immer wieder eintretenden Zurückſinkens alles bewußten Lebens ins Unbewußte. Es führt daher zu eigenen Betrachtungen, wenn man bedenkt, wie dieſes Feſſeln des Willens dann auch ſelbſt in die Traumwelt übergeht, und nichts häufiger in dieſer Nachtſeite des Seelenlebens vor¬ kommt, als irgend ein vergebliches Beſtreben, ein ſich frei machen Wollen und nicht Können, ein ängſtliches Bedrängt¬ ſein bei Unmöglichkeit ſich zu löſen u. ſ. w. — Achtet man, ſage ich, recht auf alle dieſe ſonderbaren Erſcheinungen unſers Innern, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein, daß ſchon in jener uns ſo eigenthümlich bewegenden Mythe vom ge¬ feſſelten Prometheus nichts Anderes gemeint ſei, als dieſes Ringen der Seele, als dieſe Qual eines doch in ſo vielen Beziehungen gehemmten, gebundenen Willens. 1 Daher das hohe Pathos dieſer Mythe, in welcher es im Bilde anſchau¬ lich wird, wie der eigenthümliche göttliche vorausſchauende Geiſt des Menſchen, in ſeiner Gebundenheit an das ſtarre Naturgeſetz, qualvoll im Innern ſich abmüht, bis durch höhere Einwirkung der zerfleiſchende Adler getödtet und in der Entwicklung des Geiſtes zur Höhe vollendeten Erkennt¬ niſſes, im freien Schauen des Göttlichen, der Prometheus ſeiner Feſſeln enthoben und unter die Seeligen geführt wird. Wollen wir uns hier zuvörderſt mit der Entwicklungs¬ geſchichte des Willens beſchäftigen, ſo kann darunter nur verſtanden werden das Hervorgehen deſſelben aus dem zu¬ erſt ganz willenloſen Zuſtande der Seele, und deſſen all¬ mählige Hinaufbildung zum freien Willen. Hiebei bedarf es jedoch zuvörderſt noch der genauern Beſtimmung über das, was wir freien Willen zu nennen berechtigt ſind. Schon die vorhergehenden Betrachtungen über die vielfälti¬ gen Beſchränkungen und Hemmungen menſchlichen Wollens 1 „Tief nachſinnend nag' ich wund mein Herz!“ ſagt Prometheus bei Aeſchylus (der gefeſſelte Prometheus V. 435.)

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/373>, abgerufen am 29.04.2024.