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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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zurückblickt, sich sogleich vollständig überzeugen, daß die
erstern unmöglich im Geiste selbst -- im Bewußtsein der
Seele wurzeln können! Der Geist ist, wie er selbst ge¬
worden, d. h. wie er durch das Denken die ewige Gegen¬
wart erreicht hat, auch zugleich das allein in sich Gewisse,
und so nennt man denn auch dieses Festeste im Geiste das
Gewissen, und eben dieser innern Gewißheit widerspricht
es durchaus, daß aus dem Geiste selbst ein Irrsein her¬
vorgehen könne, denn das gerade ist der Unterschied zwischen
Irrthum und Irrsein, daß der erstere immer allmählig von
selbst, oder durch gegebene Aufklärung sogleich schwindet,
das Irrsein aber, weil es im Unbewußten wurzelt, erst sich
verlieren kann, wenn das Unbewußte selbst wieder über¬
haupt, oder mindestens, in so weit es Organ des Geistes
ist, normal geworden ist.

Möge nun das Gesagte hinreichen, um von der Ver¬
schiedenheit der einzelnen Formen dieser Krankheitserschei¬
nungen des Geistes eine Uebersicht zu geben, und werfen
wir nun noch einen Blick auf die übrigen für unsern Zweck
wichtigen Momente derselben! Zuerst möchte die Art ihres
häufigern oder seltenern Vorkommens
bei gewissen
Seelen in Frage kommen. Im Allgemeinen ist schon oben
bemerkt worden, daß Versunkenheit des Geistes in Irrthum
und ein wüstes Thun und Fühlen die Anlage zu diesen
Krankheitserscheinungen allerdings vermehrt, jedenfalls, weil
rückwirkend vom Bewußten auf das Unbewußte, das Bil¬
dungsleben des Hirns selbst schon durch solche falsche Geistes¬
thätigkeit geirrt wird, und daß also verhältnißmäßig unter
stumpfsinnigen, rohen, ungebildeten Naturen mehr Geistes¬
kranke vorkommen müssen, als unter höher gebildeten und
edler entwickelten; dagegen ist es aber auch merkwürdig,
daß hinwiederum nur unter Bedingung eines gewissen
Grades
geistiger Entwicklung die Krankheitserscheinungen
am Geiste hervortreten, und daß in so weit, aber auch
nur in so weit, allerdings die mehrere Cultur die Zunahme

zurückblickt, ſich ſogleich vollſtändig überzeugen, daß die
erſtern unmöglich im Geiſte ſelbſt — im Bewußtſein der
Seele wurzeln können! Der Geiſt iſt, wie er ſelbſt ge¬
worden, d. h. wie er durch das Denken die ewige Gegen¬
wart erreicht hat, auch zugleich das allein in ſich Gewiſſe,
und ſo nennt man denn auch dieſes Feſteſte im Geiſte das
Gewiſſen, und eben dieſer innern Gewißheit widerſpricht
es durchaus, daß aus dem Geiſte ſelbſt ein Irrſein her¬
vorgehen könne, denn das gerade iſt der Unterſchied zwiſchen
Irrthum und Irrſein, daß der erſtere immer allmählig von
ſelbſt, oder durch gegebene Aufklärung ſogleich ſchwindet,
das Irrſein aber, weil es im Unbewußten wurzelt, erſt ſich
verlieren kann, wenn das Unbewußte ſelbſt wieder über¬
haupt, oder mindeſtens, in ſo weit es Organ des Geiſtes
iſt, normal geworden iſt.

Möge nun das Geſagte hinreichen, um von der Ver¬
ſchiedenheit der einzelnen Formen dieſer Krankheitserſchei¬
nungen des Geiſtes eine Ueberſicht zu geben, und werfen
wir nun noch einen Blick auf die übrigen für unſern Zweck
wichtigen Momente derſelben! Zuerſt möchte die Art ihres
häufigern oder ſeltenern Vorkommens
bei gewiſſen
Seelen in Frage kommen. Im Allgemeinen iſt ſchon oben
bemerkt worden, daß Verſunkenheit des Geiſtes in Irrthum
und ein wüſtes Thun und Fühlen die Anlage zu dieſen
Krankheitserſcheinungen allerdings vermehrt, jedenfalls, weil
rückwirkend vom Bewußten auf das Unbewußte, das Bil¬
dungsleben des Hirns ſelbſt ſchon durch ſolche falſche Geiſtes¬
thätigkeit geirrt wird, und daß alſo verhältnißmäßig unter
ſtumpfſinnigen, rohen, ungebildeten Naturen mehr Geiſtes¬
kranke vorkommen müſſen, als unter höher gebildeten und
edler entwickelten; dagegen iſt es aber auch merkwürdig,
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[450/0466] zurückblickt, ſich ſogleich vollſtändig überzeugen, daß die erſtern unmöglich im Geiſte ſelbſt — im Bewußtſein der Seele wurzeln können! Der Geiſt iſt, wie er ſelbſt ge¬ worden, d. h. wie er durch das Denken die ewige Gegen¬ wart erreicht hat, auch zugleich das allein in ſich Gewiſſe, und ſo nennt man denn auch dieſes Feſteſte im Geiſte das Gewiſſen, und eben dieſer innern Gewißheit widerſpricht es durchaus, daß aus dem Geiſte ſelbſt ein Irrſein her¬ vorgehen könne, denn das gerade iſt der Unterſchied zwiſchen Irrthum und Irrſein, daß der erſtere immer allmählig von ſelbſt, oder durch gegebene Aufklärung ſogleich ſchwindet, das Irrſein aber, weil es im Unbewußten wurzelt, erſt ſich verlieren kann, wenn das Unbewußte ſelbſt wieder über¬ haupt, oder mindeſtens, in ſo weit es Organ des Geiſtes iſt, normal geworden iſt. Möge nun das Geſagte hinreichen, um von der Ver¬ ſchiedenheit der einzelnen Formen dieſer Krankheitserſchei¬ nungen des Geiſtes eine Ueberſicht zu geben, und werfen wir nun noch einen Blick auf die übrigen für unſern Zweck wichtigen Momente derſelben! Zuerſt möchte die Art ihres häufigern oder ſeltenern Vorkommens bei gewiſſen Seelen in Frage kommen. Im Allgemeinen iſt ſchon oben bemerkt worden, daß Verſunkenheit des Geiſtes in Irrthum und ein wüſtes Thun und Fühlen die Anlage zu dieſen Krankheitserſcheinungen allerdings vermehrt, jedenfalls, weil rückwirkend vom Bewußten auf das Unbewußte, das Bil¬ dungsleben des Hirns ſelbſt ſchon durch ſolche falſche Geiſtes¬ thätigkeit geirrt wird, und daß alſo verhältnißmäßig unter ſtumpfſinnigen, rohen, ungebildeten Naturen mehr Geiſtes¬ kranke vorkommen müſſen, als unter höher gebildeten und edler entwickelten; dagegen iſt es aber auch merkwürdig, daß hinwiederum nur unter Bedingung eines gewiſſen Grades geiſtiger Entwicklung die Krankheitserſcheinungen am Geiſte hervortreten, und daß in ſo weit, aber auch nur in ſo weit, allerdings die mehrere Cultur die Zunahme

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/466>, abgerufen am 29.05.2024.