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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Wirklichkeit der Welt sich darleben, immer nur als die¬
selben
sich kund geben, welche dadurch ein Gebundensein
erkennen lassen, und dem Reiche der Nothwendigkeit ange¬
hören. Alles, was wir als Idee, oder Gesetz regelmäßiger
Gestaltung erkennen, und alle Ideen, welche das Werden
unendlicher lebenden und doch nie zum Bewußtsein gelan¬
genden Geschöpfe bedingen, gehören hieher.

Diesen Unterschied sich vollkommen deutlich zu machen,
ist nun in aller Beziehung wichtig, ganz besonders aber
dann, wenn es sich von Bestimmung dessen handelt, was
im bewußten Geiste als ewig anerkannt werden muß. 1 --
Wir dürfen es aussprechen: alles in unendlichen Reihen
fort und fort sich Offenbaren bewußtloser Ideen kann, da
sie nie ihrer selbst inne werden, nie zum Schauen ihres
eigenen Wesens geführt werden, auch ihnen selbst auf keine
Weise zu Gute kommen, nichts an ihrem ewigen Sein
ändern, oder, wie man es auch ausdrücken darf, von ihrem
sich Darleben wird nie ein besonderes sich Verewigendes
zurückbleiben. All das unendliche sich immer wieder Offen¬
baren bewußtloser Ideen wird deßhalb nie für sie selbst,

1 Die einzige Stelle eines neuern Schriftstellers, in welcher man
einen solchen Unterschied gewissermaßen angedeutet finden dürfte, obwohl
vielleicht mehr mit dem selbst in sich noch halb unbewußten Voraus¬
schauen des Dichters, als mit dem Wissen des Philosophen, ist gegeben
in den merkwürdigen Worten in dem 2. Theile des Faust, wo es von den
Müttern, d. h. eben den Urbildern, den göttlichen Bildern alles Seins
von allem Sein heißt:
"Ein glühnder Dreifuß thut Dir endlich kund
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund,
Bei seinem Schein wirst Du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehn
Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ew'ge Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur
Sie sehn Dich nicht, denn Schemen sehn sie nur" --
Der hier ausgesprochene Unterschied der Mütter (Urbilder) zwischen
sitzenden, oder stehenden und gehenden kann nämlich philosophisch nur
verstanden werden, indem man die ersten deutet: als die ewig sich selbst
gleichen in Nothwendigkeit gebundenen, und die andern als die fortschrei¬
tenden in der Selbstschau zur Freiheit bestimmten Ideen. -- Ein Unter¬
schied, dessen Wichtigkeit man weiterhin mehr und mehr begreifen wird.

Wirklichkeit der Welt ſich darleben, immer nur als die¬
ſelben
ſich kund geben, welche dadurch ein Gebundenſein
erkennen laſſen, und dem Reiche der Nothwendigkeit ange¬
hören. Alles, was wir als Idee, oder Geſetz regelmäßiger
Geſtaltung erkennen, und alle Ideen, welche das Werden
unendlicher lebenden und doch nie zum Bewußtſein gelan¬
genden Geſchöpfe bedingen, gehören hieher.

Dieſen Unterſchied ſich vollkommen deutlich zu machen,
iſt nun in aller Beziehung wichtig, ganz beſonders aber
dann, wenn es ſich von Beſtimmung deſſen handelt, was
im bewußten Geiſte als ewig anerkannt werden muß. 1
Wir dürfen es ausſprechen: alles in unendlichen Reihen
fort und fort ſich Offenbaren bewußtloſer Ideen kann, da
ſie nie ihrer ſelbſt inne werden, nie zum Schauen ihres
eigenen Weſens geführt werden, auch ihnen ſelbſt auf keine
Weiſe zu Gute kommen, nichts an ihrem ewigen Sein
ändern, oder, wie man es auch ausdrücken darf, von ihrem
ſich Darleben wird nie ein beſonderes ſich Verewigendes
zurückbleiben. All das unendliche ſich immer wieder Offen¬
baren bewußtloſer Ideen wird deßhalb nie für ſie ſelbſt,

1 Die einzige Stelle eines neuern Schriftſtellers, in welcher man
einen ſolchen Unterſchied gewiſſermaßen angedeutet finden dürfte, obwohl
vielleicht mehr mit dem ſelbſt in ſich noch halb unbewußten Voraus¬
ſchauen des Dichters, als mit dem Wiſſen des Philoſophen, iſt gegeben
in den merkwürdigen Worten in dem 2. Theile des Fauſt, wo es von den
Müttern, d. h. eben den Urbildern, den göttlichen Bildern alles Seins
von allem Sein heißt:
„Ein glühnder Dreifuß thut Dir endlich kund
Du ſeiſt im tiefſten, allertiefſten Grund,
Bei ſeinem Schein wirſt Du die Mütter ſehn,
Die einen ſitzen, andre ſtehn und gehn
Wie's eben kommt. Geſtaltung, Umgeſtaltung,
Des ewigen Sinnes ew'ge Unterhaltung,
Umſchwebt von Bildern aller Kreatur
Sie ſehn Dich nicht, denn Schemen ſehn ſie nur“ —
Der hier ausgeſprochene Unterſchied der Mütter (Urbilder) zwiſchen
ſitzenden, oder ſtehenden und gehenden kann nämlich philoſophiſch nur
verſtanden werden, indem man die erſten deutet: als die ewig ſich ſelbſt
gleichen in Nothwendigkeit gebundenen, und die andern als die fortſchrei¬
tenden in der Selbſtſchau zur Freiheit beſtimmten Ideen. — Ein Unter¬
ſchied, deſſen Wichtigkeit man weiterhin mehr und mehr begreifen wird.
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[469/0485] Wirklichkeit der Welt ſich darleben, immer nur als die¬ ſelben ſich kund geben, welche dadurch ein Gebundenſein erkennen laſſen, und dem Reiche der Nothwendigkeit ange¬ hören. Alles, was wir als Idee, oder Geſetz regelmäßiger Geſtaltung erkennen, und alle Ideen, welche das Werden unendlicher lebenden und doch nie zum Bewußtſein gelan¬ genden Geſchöpfe bedingen, gehören hieher. Dieſen Unterſchied ſich vollkommen deutlich zu machen, iſt nun in aller Beziehung wichtig, ganz beſonders aber dann, wenn es ſich von Beſtimmung deſſen handelt, was im bewußten Geiſte als ewig anerkannt werden muß. 1 — Wir dürfen es ausſprechen: alles in unendlichen Reihen fort und fort ſich Offenbaren bewußtloſer Ideen kann, da ſie nie ihrer ſelbſt inne werden, nie zum Schauen ihres eigenen Weſens geführt werden, auch ihnen ſelbſt auf keine Weiſe zu Gute kommen, nichts an ihrem ewigen Sein ändern, oder, wie man es auch ausdrücken darf, von ihrem ſich Darleben wird nie ein beſonderes ſich Verewigendes zurückbleiben. All das unendliche ſich immer wieder Offen¬ baren bewußtloſer Ideen wird deßhalb nie für ſie ſelbſt, 1 Die einzige Stelle eines neuern Schriftſtellers, in welcher man einen ſolchen Unterſchied gewiſſermaßen angedeutet finden dürfte, obwohl vielleicht mehr mit dem ſelbſt in ſich noch halb unbewußten Voraus¬ ſchauen des Dichters, als mit dem Wiſſen des Philoſophen, iſt gegeben in den merkwürdigen Worten in dem 2. Theile des Fauſt, wo es von den Müttern, d. h. eben den Urbildern, den göttlichen Bildern alles Seins von allem Sein heißt: „Ein glühnder Dreifuß thut Dir endlich kund Du ſeiſt im tiefſten, allertiefſten Grund, Bei ſeinem Schein wirſt Du die Mütter ſehn, Die einen ſitzen, andre ſtehn und gehn Wie's eben kommt. Geſtaltung, Umgeſtaltung, Des ewigen Sinnes ew'ge Unterhaltung, Umſchwebt von Bildern aller Kreatur Sie ſehn Dich nicht, denn Schemen ſehn ſie nur“ — Der hier ausgeſprochene Unterſchied der Mütter (Urbilder) zwiſchen ſitzenden, oder ſtehenden und gehenden kann nämlich philoſophiſch nur verſtanden werden, indem man die erſten deutet: als die ewig ſich ſelbſt gleichen in Nothwendigkeit gebundenen, und die andern als die fortſchrei¬ tenden in der Selbſtſchau zur Freiheit beſtimmten Ideen. — Ein Unter¬ ſchied, deſſen Wichtigkeit man weiterhin mehr und mehr begreifen wird.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/485>, abgerufen am 10.06.2024.