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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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2. Kenntniß des thierischen Baues.
Beurtheilung des psychischen Antheils an den Wahrnehmungen darbie-
ten. Endlich war man, um das grob sinnliche zuletzt zu erwähnen,
viel zu wenig vorbereitet, die Veränderungen der Theile nach dem Tode
und die davon abhängenden Erscheinungen (z. B. die Blutleere der
Arterien) als solche aufzufassen und demgemäß beim Aufbau anatomi-
scher Systeme richtig verwenden zu können.

Hätte die vergleichende Anatomie sich in ähnlicher Weise entwickeln
können, wie in neueren Zeiten die allmähliche Complication der thie-
rischen Organismen aufgefaßt wird, hätte sie nach den einfachsten Bei-
spielen eines thierischen Baues gesucht, um von diesen in der Erkennt-
niß zu immer zusammengesetzteren Formen vorschreiten zu können, dann
würden manche derartige Fehler zu vermeiden gewesen sein. Es lag
aber der ganzen Ideenwelt des Alterthums, welche wie auch gar zu
häufig noch die der Neuzeit mit einem starren Anthropomorphismus an
die Naturerscheinungen herantrat, zunächst der Drang am nächsten,
womöglich sofort über Formen und Vorgänge der Natur Rechenschaft
zu fordern und zu geben. Diese fiel denn je nach dem Wege, auf
welchem man meist beiläufig, selten direct zu einem Erklärungsversuch
gekommen war, grob mechanisch oder rein spiritualistisch, immer aber
von der vorgefaßten Ansicht des allgemeinen Zusammenhanges befangen
aus. Versuche, eine Erklärung inductiv zu entwickeln, waren äußerst
selten. Wenn auch hier wieder auf Aristoteles gewiesen wird, so ge-
schieht es, weil er derjenige war, welcher den dem richtigen Erfassen des
thierischen Baues entgegenstehenden Schwierigkeiten unter allen Natur-
kundigen des Alterthums am glücklichsten zu begegnen wußte. Auch er
konnte sich zwar von manchen Vorurtheilen seiner Zeit nicht völlig frei
machen; doch sichern ihm seine Leistungen das Recht, auch als Begrün-
der der vergleichenden Anatomie gefeiert zu werden.

Es ist allerdings von mehreren Philosophen aus der Zeit vor Ari-
stoteles
bekannt, daß sie sich auch mit Beobachtungen über den Bau,
selbst über Entwickelung der Thiere beschäftigt haben. Keiner hat aber
wie Aristoteles diese Beobachtungen von einer so breiten Anlage aus
und als ihr eigenes Interesse in sich tragend angesehen und dargestellt.
Meist wurden die anatomischen Ansichten von jenen nur als Stützen

2. Kenntniß des thieriſchen Baues.
Beurtheilung des pſychiſchen Antheils an den Wahrnehmungen darbie-
ten. Endlich war man, um das grob ſinnliche zuletzt zu erwähnen,
viel zu wenig vorbereitet, die Veränderungen der Theile nach dem Tode
und die davon abhängenden Erſcheinungen (z. B. die Blutleere der
Arterien) als ſolche aufzufaſſen und demgemäß beim Aufbau anatomi-
ſcher Syſteme richtig verwenden zu können.

Hätte die vergleichende Anatomie ſich in ähnlicher Weiſe entwickeln
können, wie in neueren Zeiten die allmähliche Complication der thie-
riſchen Organismen aufgefaßt wird, hätte ſie nach den einfachſten Bei-
ſpielen eines thieriſchen Baues geſucht, um von dieſen in der Erkennt-
niß zu immer zuſammengeſetzteren Formen vorſchreiten zu können, dann
würden manche derartige Fehler zu vermeiden geweſen ſein. Es lag
aber der ganzen Ideenwelt des Alterthums, welche wie auch gar zu
häufig noch die der Neuzeit mit einem ſtarren Anthropomorphismus an
die Naturerſcheinungen herantrat, zunächſt der Drang am nächſten,
womöglich ſofort über Formen und Vorgänge der Natur Rechenſchaft
zu fordern und zu geben. Dieſe fiel denn je nach dem Wege, auf
welchem man meiſt beiläufig, ſelten direct zu einem Erklärungsverſuch
gekommen war, grob mechaniſch oder rein ſpiritualiſtiſch, immer aber
von der vorgefaßten Anſicht des allgemeinen Zuſammenhanges befangen
aus. Verſuche, eine Erklärung inductiv zu entwickeln, waren äußerſt
ſelten. Wenn auch hier wieder auf Ariſtoteles gewieſen wird, ſo ge-
ſchieht es, weil er derjenige war, welcher den dem richtigen Erfaſſen des
thieriſchen Baues entgegenſtehenden Schwierigkeiten unter allen Natur-
kundigen des Alterthums am glücklichſten zu begegnen wußte. Auch er
konnte ſich zwar von manchen Vorurtheilen ſeiner Zeit nicht völlig frei
machen; doch ſichern ihm ſeine Leiſtungen das Recht, auch als Begrün-
der der vergleichenden Anatomie gefeiert zu werden.

Es iſt allerdings von mehreren Philoſophen aus der Zeit vor Ari-
ſtoteles
bekannt, daß ſie ſich auch mit Beobachtungen über den Bau,
ſelbſt über Entwickelung der Thiere beſchäftigt haben. Keiner hat aber
wie Ariſtoteles dieſe Beobachtungen von einer ſo breiten Anlage aus
und als ihr eigenes Intereſſe in ſich tragend angeſehen und dargeſtellt.
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[57/0068] 2. Kenntniß des thieriſchen Baues. Beurtheilung des pſychiſchen Antheils an den Wahrnehmungen darbie- ten. Endlich war man, um das grob ſinnliche zuletzt zu erwähnen, viel zu wenig vorbereitet, die Veränderungen der Theile nach dem Tode und die davon abhängenden Erſcheinungen (z. B. die Blutleere der Arterien) als ſolche aufzufaſſen und demgemäß beim Aufbau anatomi- ſcher Syſteme richtig verwenden zu können. Hätte die vergleichende Anatomie ſich in ähnlicher Weiſe entwickeln können, wie in neueren Zeiten die allmähliche Complication der thie- riſchen Organismen aufgefaßt wird, hätte ſie nach den einfachſten Bei- ſpielen eines thieriſchen Baues geſucht, um von dieſen in der Erkennt- niß zu immer zuſammengeſetzteren Formen vorſchreiten zu können, dann würden manche derartige Fehler zu vermeiden geweſen ſein. Es lag aber der ganzen Ideenwelt des Alterthums, welche wie auch gar zu häufig noch die der Neuzeit mit einem ſtarren Anthropomorphismus an die Naturerſcheinungen herantrat, zunächſt der Drang am nächſten, womöglich ſofort über Formen und Vorgänge der Natur Rechenſchaft zu fordern und zu geben. Dieſe fiel denn je nach dem Wege, auf welchem man meiſt beiläufig, ſelten direct zu einem Erklärungsverſuch gekommen war, grob mechaniſch oder rein ſpiritualiſtiſch, immer aber von der vorgefaßten Anſicht des allgemeinen Zuſammenhanges befangen aus. Verſuche, eine Erklärung inductiv zu entwickeln, waren äußerſt ſelten. Wenn auch hier wieder auf Ariſtoteles gewieſen wird, ſo ge- ſchieht es, weil er derjenige war, welcher den dem richtigen Erfaſſen des thieriſchen Baues entgegenſtehenden Schwierigkeiten unter allen Natur- kundigen des Alterthums am glücklichſten zu begegnen wußte. Auch er konnte ſich zwar von manchen Vorurtheilen ſeiner Zeit nicht völlig frei machen; doch ſichern ihm ſeine Leiſtungen das Recht, auch als Begrün- der der vergleichenden Anatomie gefeiert zu werden. Es iſt allerdings von mehreren Philoſophen aus der Zeit vor Ari- ſtoteles bekannt, daß ſie ſich auch mit Beobachtungen über den Bau, ſelbſt über Entwickelung der Thiere beſchäftigt haben. Keiner hat aber wie Ariſtoteles dieſe Beobachtungen von einer ſo breiten Anlage aus und als ihr eigenes Intereſſe in ſich tragend angeſehen und dargeſtellt. Meiſt wurden die anatomiſchen Anſichten von jenen nur als Stützen

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/68>, abgerufen am 30.04.2024.