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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
rechtliche Grundüberzeugungen besassen, die in den verschiedenen
Stämmen sich verschieden entwickelten, ohne es aber jemals zu einer
wahren Blüte bringen zu können; er wird einsehen, dass sie es des-
wegen nicht konnten, weil es keinem Zweig gelingen wollte, einen
freien und zugleich dauernden Staat zu gründen; dann wird er mit
Staunen gewahr werden, wie dieses eine kleine Volk von charakter-
starken Männern, die Römer, beides zu Stande bringt: Staat und Recht,
-- den Staat dadurch, dass Jeder das Recht (sein persönliches Recht)
sich dauernd sichern will, das Recht dadurch, dass Jeder die Selbst-
beherrschung besitzt, dem Gemeinwesen die nötigen Opfer zu bringen
und bedingungslose Treue zu widmen; und wer das erkannt hat, der
wird gewiss nie anders, als mit grösster Verehrung vom römischen
Recht als einem der kostbarsten Besitztümer der Menschheit reden.
Zugleich freilich wird er einsehen, dass die höchste und nachahmungs-
würdigste Eigenschaft dieses Rechtes seine genaue Anpassung an be-
stimmte Lebensumstände ist. Einem Solchen aber kann es nicht ver-
schlossen bleiben, dass Staat und Recht -- beides Erzeugnisse des
"geborenen Rechtsvolkes"1) -- bei den Römern unzertrennlich
zusammengehören und dass wir weder diesen Staat, noch dieses Recht
wirklich verstehen können, wenn wir nicht eine klare Vorstellung
von dem römischen Volke und seiner Geschichte besitzen. Das ist

Leist). Keine Schädelmessungen und philologischen Tüfteleien können diese ein-
fache, grosse Thatsache -- ein Ergebnis peinlich genauer, juristischer Forschung --
aus der Welt schaffen, und durch sie wird das Dasein eines moralischen Arier-
tums (im Gegensatz zu einem moralischen Nicht-Ariertum) dargethan, und wären
die Völker dieser Gruppe aus noch so bunten Bestandteilen zusammengesetzt.
1) Jhering: Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, S. 81. Eine umso
bemerkenswertere Äusserung, als gerade dieser grosse Rechtslehrer stets energisch
zu verneinen pflegt, dass einem Volke irgend etwas angeboren sei; er versteigt
sich sogar (Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 270) zu der ungeheuerlichen Be-
hauptung, die angeerbte, physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur
des Menschen -- denn das ist wohl doch, was der Begriff Rasse bezeichnen soll --
habe gar keinen Einfluss auf seinen Charakter, sondern einzig die geographische
Umgebung, so dass der Arier, nach Mesopotamien verpflanzt, eo ipso Semit geworden
wäre, und umgekehrt. Da ist Haeckel's pseudowissenschaftliches Phantasiebild
der verschiedenen Affen, von denen je eine Menschenrasse abstammen soll, im
Vergleich noch vernünftig. Freilich darf man nicht vergessen, dass Jhering gegen
das mystische Dogma eines "angeborenen corpus juris" sein Leben lang hart hatte
kämpfen müssen, und dass es sein grosses Verdienst ist, der echten Wissenschaft
hier freie Bahn geschaffen zu haben; das erklärt seine Übertreibungen im umge-
kehrten Sinne.

Das Erbe der alten Welt.
rechtliche Grundüberzeugungen besassen, die in den verschiedenen
Stämmen sich verschieden entwickelten, ohne es aber jemals zu einer
wahren Blüte bringen zu können; er wird einsehen, dass sie es des-
wegen nicht konnten, weil es keinem Zweig gelingen wollte, einen
freien und zugleich dauernden Staat zu gründen; dann wird er mit
Staunen gewahr werden, wie dieses eine kleine Volk von charakter-
starken Männern, die Römer, beides zu Stande bringt: Staat und Recht,
— den Staat dadurch, dass Jeder das Recht (sein persönliches Recht)
sich dauernd sichern will, das Recht dadurch, dass Jeder die Selbst-
beherrschung besitzt, dem Gemeinwesen die nötigen Opfer zu bringen
und bedingungslose Treue zu widmen; und wer das erkannt hat, der
wird gewiss nie anders, als mit grösster Verehrung vom römischen
Recht als einem der kostbarsten Besitztümer der Menschheit reden.
Zugleich freilich wird er einsehen, dass die höchste und nachahmungs-
würdigste Eigenschaft dieses Rechtes seine genaue Anpassung an be-
stimmte Lebensumstände ist. Einem Solchen aber kann es nicht ver-
schlossen bleiben, dass Staat und Recht — beides Erzeugnisse des
»geborenen Rechtsvolkes«1) — bei den Römern unzertrennlich
zusammengehören und dass wir weder diesen Staat, noch dieses Recht
wirklich verstehen können, wenn wir nicht eine klare Vorstellung
von dem römischen Volke und seiner Geschichte besitzen. Das ist

Leist). Keine Schädelmessungen und philologischen Tüfteleien können diese ein-
fache, grosse Thatsache — ein Ergebnis peinlich genauer, juristischer Forschung —
aus der Welt schaffen, und durch sie wird das Dasein eines moralischen Arier-
tums (im Gegensatz zu einem moralischen Nicht-Ariertum) dargethan, und wären
die Völker dieser Gruppe aus noch so bunten Bestandteilen zusammengesetzt.
1) Jhering: Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, S. 81. Eine umso
bemerkenswertere Äusserung, als gerade dieser grosse Rechtslehrer stets energisch
zu verneinen pflegt, dass einem Volke irgend etwas angeboren sei; er versteigt
sich sogar (Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 270) zu der ungeheuerlichen Be-
hauptung, die angeerbte, physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur
des Menschen — denn das ist wohl doch, was der Begriff Rasse bezeichnen soll —
habe gar keinen Einfluss auf seinen Charakter, sondern einzig die geographische
Umgebung, so dass der Arier, nach Mesopotamien verpflanzt, eo ipso Semit geworden
wäre, und umgekehrt. Da ist Haeckel’s pseudowissenschaftliches Phantasiebild
der verschiedenen Affen, von denen je eine Menschenrasse abstammen soll, im
Vergleich noch vernünftig. Freilich darf man nicht vergessen, dass Jhering gegen
das mystische Dogma eines »angeborenen corpus juris« sein Leben lang hart hatte
kämpfen müssen, und dass es sein grosses Verdienst ist, der echten Wissenschaft
hier freie Bahn geschaffen zu haben; das erklärt seine Übertreibungen im umge-
kehrten Sinne.
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[122/0145] Das Erbe der alten Welt. rechtliche Grundüberzeugungen besassen, die in den verschiedenen Stämmen sich verschieden entwickelten, ohne es aber jemals zu einer wahren Blüte bringen zu können; er wird einsehen, dass sie es des- wegen nicht konnten, weil es keinem Zweig gelingen wollte, einen freien und zugleich dauernden Staat zu gründen; dann wird er mit Staunen gewahr werden, wie dieses eine kleine Volk von charakter- starken Männern, die Römer, beides zu Stande bringt: Staat und Recht, — den Staat dadurch, dass Jeder das Recht (sein persönliches Recht) sich dauernd sichern will, das Recht dadurch, dass Jeder die Selbst- beherrschung besitzt, dem Gemeinwesen die nötigen Opfer zu bringen und bedingungslose Treue zu widmen; und wer das erkannt hat, der wird gewiss nie anders, als mit grösster Verehrung vom römischen Recht als einem der kostbarsten Besitztümer der Menschheit reden. Zugleich freilich wird er einsehen, dass die höchste und nachahmungs- würdigste Eigenschaft dieses Rechtes seine genaue Anpassung an be- stimmte Lebensumstände ist. Einem Solchen aber kann es nicht ver- schlossen bleiben, dass Staat und Recht — beides Erzeugnisse des »geborenen Rechtsvolkes« 1) — bei den Römern unzertrennlich zusammengehören und dass wir weder diesen Staat, noch dieses Recht wirklich verstehen können, wenn wir nicht eine klare Vorstellung von dem römischen Volke und seiner Geschichte besitzen. Das ist 1) 1) Jhering: Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, S. 81. Eine umso bemerkenswertere Äusserung, als gerade dieser grosse Rechtslehrer stets energisch zu verneinen pflegt, dass einem Volke irgend etwas angeboren sei; er versteigt sich sogar (Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 270) zu der ungeheuerlichen Be- hauptung, die angeerbte, physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur des Menschen — denn das ist wohl doch, was der Begriff Rasse bezeichnen soll — habe gar keinen Einfluss auf seinen Charakter, sondern einzig die geographische Umgebung, so dass der Arier, nach Mesopotamien verpflanzt, eo ipso Semit geworden wäre, und umgekehrt. Da ist Haeckel’s pseudowissenschaftliches Phantasiebild der verschiedenen Affen, von denen je eine Menschenrasse abstammen soll, im Vergleich noch vernünftig. Freilich darf man nicht vergessen, dass Jhering gegen das mystische Dogma eines »angeborenen corpus juris« sein Leben lang hart hatte kämpfen müssen, und dass es sein grosses Verdienst ist, der echten Wissenschaft hier freie Bahn geschaffen zu haben; das erklärt seine Übertreibungen im umge- kehrten Sinne. 1) Leist). Keine Schädelmessungen und philologischen Tüfteleien können diese ein- fache, grosse Thatsache — ein Ergebnis peinlich genauer, juristischer Forschung — aus der Welt schaffen, und durch sie wird das Dasein eines moralischen Arier- tums (im Gegensatz zu einem moralischen Nicht-Ariertum) dargethan, und wären die Völker dieser Gruppe aus noch so bunten Bestandteilen zusammengesetzt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/145>, abgerufen am 27.04.2024.