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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
einen undenkbaren, die einfache Welt erweitert sich zum "Doppelreich".1)
Schon der Anblick des Todes weist ihn auf eine unbekannte Welt,
und die Geburt mutet ihn an wie eine Botschaft aus demselben Reiche.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir nur "Wundern"; das grösste
sind wir uns selber. Wie naiv der Wilde sich wundert und überall
ein Ausserweltliches vermutet, ist von vielen Reisenden geschildert
worden und daher allbekannt; von Goethe andrerseits, vielleicht dem
feinst organisierten Gehirn, welches die Menschheit bisher hervorbrachte,
sagt Carlyle: "vor seinem Auge liegt die ganze Welt ausgebreitet,
durchsichtig, als wäre sie zu Glas zerschmolzen, doch allseitig um-
geben vom Wunder, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür-
liches";2) und Voltaire, der angebliche Spötter, beschliesst seine natur-
wissenschaftlichen Untersuchungen mit den Worten: "Pour peu qu'on
creuse, on trouve un abeime infini.
" So reichen sich die Menschen
die Hände von der untersten Stufe bis zur obersten: die lebendige
Empfindung eines grossen Weltgeheimnisses, die Ahnung, dass das
Natürliche "übernatürlich" sei, ist Allen gemeinsam, sie vereinigt den
Australneger mit einem Newton und einem Goethe. Einzig der
Semit steht abseits. Von dem Wüstenaraber sagt Renan: "Kein Mensch
der Welt ist der Mystik so wenig zugänglich wie dieser, kein Mensch
so wenig zur Betrachtung und zur Andacht gestimmt. Gott ist
Schöpfer der Welt, er hat sie gemacht, das genügt ihm als Erklärung".3)
Es ist dies der pure Materialismus im Gegensatz zu dem, was andere
Menschen Religion nennen und worunter sie alle ein Unausdenkbares,
Unaussprechbares verstehen. So rühmt denn auch Montefiore von der
Religion seiner Väter, in welcher semitischer Religionsdrang seine
höchste, durchgebildetste Form gefunden hat: sie enthalte nichts eso-
terisches, nicht die geringste innere Unbegreiflichkeit; daher komme
es, dass diese Religion, die weder Aberglauben noch Geheimnis kenne,
die Lehrmeisterin der Völker geworden sei.4) Derselbe jüdische Autor
wird nicht müde, voll Bewunderung hervorzuheben, die Semiten hätten

1) Faust, zweiter Teil, 1. Akt, Faustens letzte Worte.
2) In dem Aufsatz Goethe's Works, gegen Schluss.
3) L'islamisme et la science, p. 380. Hier liegt offenbar ein geistiges Manco
vor, was auch Renan an anderer Stelle zugiebt, wo er berichtet: "Den semi-
tischen Völkern geht die fragende Wissbegierde fast gänzlich ab; nichts erregt
bei ihnen Staunen
" (Langues semitiques, p. 10). Nach Hume (Human Under-
standing
4, 7) ist das Fehlen des Staunens das charakteristische Merkmal geringer
intellektueller Begabung.
4) Vergl. Religion of the ancient Hebrews, p. 160.

Die Erben.
einen undenkbaren, die einfache Welt erweitert sich zum »Doppelreich«.1)
Schon der Anblick des Todes weist ihn auf eine unbekannte Welt,
und die Geburt mutet ihn an wie eine Botschaft aus demselben Reiche.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir nur »Wundern«; das grösste
sind wir uns selber. Wie naiv der Wilde sich wundert und überall
ein Ausserweltliches vermutet, ist von vielen Reisenden geschildert
worden und daher allbekannt; von Goethe andrerseits, vielleicht dem
feinst organisierten Gehirn, welches die Menschheit bisher hervorbrachte,
sagt Carlyle: »vor seinem Auge liegt die ganze Welt ausgebreitet,
durchsichtig, als wäre sie zu Glas zerschmolzen, doch allseitig um-
geben vom Wunder, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür-
liches«;2) und Voltaire, der angebliche Spötter, beschliesst seine natur-
wissenschaftlichen Untersuchungen mit den Worten: »Pour peu qu’on
creuse, on trouve un abîme infini.
« So reichen sich die Menschen
die Hände von der untersten Stufe bis zur obersten: die lebendige
Empfindung eines grossen Weltgeheimnisses, die Ahnung, dass das
Natürliche »übernatürlich« sei, ist Allen gemeinsam, sie vereinigt den
Australneger mit einem Newton und einem Goethe. Einzig der
Semit steht abseits. Von dem Wüstenaraber sagt Renan: »Kein Mensch
der Welt ist der Mystik so wenig zugänglich wie dieser, kein Mensch
so wenig zur Betrachtung und zur Andacht gestimmt. Gott ist
Schöpfer der Welt, er hat sie gemacht, das genügt ihm als Erklärung«.3)
Es ist dies der pure Materialismus im Gegensatz zu dem, was andere
Menschen Religion nennen und worunter sie alle ein Unausdenkbares,
Unaussprechbares verstehen. So rühmt denn auch Montefiore von der
Religion seiner Väter, in welcher semitischer Religionsdrang seine
höchste, durchgebildetste Form gefunden hat: sie enthalte nichts eso-
terisches, nicht die geringste innere Unbegreiflichkeit; daher komme
es, dass diese Religion, die weder Aberglauben noch Geheimnis kenne,
die Lehrmeisterin der Völker geworden sei.4) Derselbe jüdische Autor
wird nicht müde, voll Bewunderung hervorzuheben, die Semiten hätten

1) Faust, zweiter Teil, 1. Akt, Faustens letzte Worte.
2) In dem Aufsatz Goethe’s Works, gegen Schluss.
3) L’islamisme et la science, p. 380. Hier liegt offenbar ein geistiges Manco
vor, was auch Renan an anderer Stelle zugiebt, wo er berichtet: »Den semi-
tischen Völkern geht die fragende Wissbegierde fast gänzlich ab; nichts erregt
bei ihnen Staunen
« (Langues sémitiques, p. 10). Nach Hume (Human Under-
standing
4, 7) ist das Fehlen des Staunens das charakteristische Merkmal geringer
intellektueller Begabung.
4) Vergl. Religion of the ancient Hebrews, p. 160.
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[392/0415] Die Erben. einen undenkbaren, die einfache Welt erweitert sich zum »Doppelreich«. 1) Schon der Anblick des Todes weist ihn auf eine unbekannte Welt, und die Geburt mutet ihn an wie eine Botschaft aus demselben Reiche. Auf Schritt und Tritt begegnen wir nur »Wundern«; das grösste sind wir uns selber. Wie naiv der Wilde sich wundert und überall ein Ausserweltliches vermutet, ist von vielen Reisenden geschildert worden und daher allbekannt; von Goethe andrerseits, vielleicht dem feinst organisierten Gehirn, welches die Menschheit bisher hervorbrachte, sagt Carlyle: »vor seinem Auge liegt die ganze Welt ausgebreitet, durchsichtig, als wäre sie zu Glas zerschmolzen, doch allseitig um- geben vom Wunder, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür- liches«; 2) und Voltaire, der angebliche Spötter, beschliesst seine natur- wissenschaftlichen Untersuchungen mit den Worten: »Pour peu qu’on creuse, on trouve un abîme infini.« So reichen sich die Menschen die Hände von der untersten Stufe bis zur obersten: die lebendige Empfindung eines grossen Weltgeheimnisses, die Ahnung, dass das Natürliche »übernatürlich« sei, ist Allen gemeinsam, sie vereinigt den Australneger mit einem Newton und einem Goethe. Einzig der Semit steht abseits. Von dem Wüstenaraber sagt Renan: »Kein Mensch der Welt ist der Mystik so wenig zugänglich wie dieser, kein Mensch so wenig zur Betrachtung und zur Andacht gestimmt. Gott ist Schöpfer der Welt, er hat sie gemacht, das genügt ihm als Erklärung«. 3) Es ist dies der pure Materialismus im Gegensatz zu dem, was andere Menschen Religion nennen und worunter sie alle ein Unausdenkbares, Unaussprechbares verstehen. So rühmt denn auch Montefiore von der Religion seiner Väter, in welcher semitischer Religionsdrang seine höchste, durchgebildetste Form gefunden hat: sie enthalte nichts eso- terisches, nicht die geringste innere Unbegreiflichkeit; daher komme es, dass diese Religion, die weder Aberglauben noch Geheimnis kenne, die Lehrmeisterin der Völker geworden sei. 4) Derselbe jüdische Autor wird nicht müde, voll Bewunderung hervorzuheben, die Semiten hätten 1) Faust, zweiter Teil, 1. Akt, Faustens letzte Worte. 2) In dem Aufsatz Goethe’s Works, gegen Schluss. 3) L’islamisme et la science, p. 380. Hier liegt offenbar ein geistiges Manco vor, was auch Renan an anderer Stelle zugiebt, wo er berichtet: »Den semi- tischen Völkern geht die fragende Wissbegierde fast gänzlich ab; nichts erregt bei ihnen Staunen« (Langues sémitiques, p. 10). Nach Hume (Human Under- standing 4, 7) ist das Fehlen des Staunens das charakteristische Merkmal geringer intellektueller Begabung. 4) Vergl. Religion of the ancient Hebrews, p. 160.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/415>, abgerufen am 13.05.2024.