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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Leben ist an und für sich ein Widerspruch; "la vie est l'ensemble
des fonctions qui resistent a la mort"
sagte der grosse Bichat; jedes
Lebendige hat darum zugleich etwas Fragmentarisches und etwas
gewissermassen Willkürliches an sich; einzig durch die freie, poetische
-- doch nur bedingt gültige -- Zuthat des Menschen gelingt es, die
beiden Enden des magischen Gürtels an einander zu knüpfen; Kunst-
werke bilden keine Ausnahme; Homer's Ilias ist ein grossartiges Bei-
spiel hiervon, Plato's Weltanschauung ein zweites, Demokrit's Welt-
theorie ein ebenso bedeutendes. Und während die prächtig "logisch"
ausgemeisselten Philosophien und Theorien eine nach der anderen in
dem Abgrund der Zeit verschwinden, reihen sich jene alten Ideen
noch jugendfrisch an unsere neuesten an. Man sieht: nicht die
"objektive Wahrheit" ist das Ausschlaggebende, sondern die Art der
Gestaltung, "l'ensemble des fonctions" würde Bichat sagen.

Noch eine Bemerkung in Bezug auf Plato; wiederum nur eine
Andeutung -- denn zu jeder Ausführung fehlt mir der Raum --
genug aber, hoffe ich, damit nichts unklar bleibt. Dass indisches
Denken einen geradezu bestimmenden Einfluss auf die griechische
Philosophie ausgeübt hat, steht nunmehr fest; unsere Hellenisten und
Philosophen haben sich zwar lange mit dem wütenden Eigensinn
vorurteilsvoller Gelehrten dagegen gesträubt: alles sollte in Hellas
autochthon entstanden sein, höchstens die Ägypter und die Semiten
hätten bildend gewirkt -- wobei allerdings für die Philosophie wenig
zu profitieren gewesen wäre; die neueren Indologen haben jedoch
das bestätigt gefunden, was die ältesten (namentlich der geniale Sir
William Jones) sofort vermutet hatten. Insbesondere ist für Pytha-
goras der Nachweis einer eingehenden Bekanntschaft mit indischen
Lehren ausführlich dargebracht worden,1) und da Pythagoras immer
deutlicher als der Stammvater des griechischen Denkens hervortritt,
ist das schon viel. Ausserdem ist eine unmittelbare Beeinflussung der
Eleaten, des Heraklit, des Anaxagoras, des Demokrit u. s. w., höchst
wahrscheinlich gemacht worden.2) Unter diesen Bedingungen kann
es nicht wunder nehmen, wenn ein so hoher Geist wie Plato durch
manche unverständige Zugabe hindurchdrang und -- namentlich
betreffs etlicher Kernpunkte aller echten Methaphysik -- mit den

1) Vergl. hierüber namentlich Schroeder: Pythagoras und die Inder (1884).
2) Die beste mir bekannte Zusammenstellung aus letzterer Zeit ist die von
Garbe in seiner Samkhya-Philosophie (1894), S. 85 fg.; dort findet man auch
die wichtigste Litteratur erwähnt.

Das Erbe der alten Welt.
Leben ist an und für sich ein Widerspruch; „la vie est l’ensemble
des fonctions qui résistent à la mort‟
sagte der grosse Bichat; jedes
Lebendige hat darum zugleich etwas Fragmentarisches und etwas
gewissermassen Willkürliches an sich; einzig durch die freie, poetische
— doch nur bedingt gültige — Zuthat des Menschen gelingt es, die
beiden Enden des magischen Gürtels an einander zu knüpfen; Kunst-
werke bilden keine Ausnahme; Homer’s Ilias ist ein grossartiges Bei-
spiel hiervon, Plato’s Weltanschauung ein zweites, Demokrit’s Welt-
theorie ein ebenso bedeutendes. Und während die prächtig »logisch«
ausgemeisselten Philosophien und Theorien eine nach der anderen in
dem Abgrund der Zeit verschwinden, reihen sich jene alten Ideen
noch jugendfrisch an unsere neuesten an. Man sieht: nicht die
»objektive Wahrheit« ist das Ausschlaggebende, sondern die Art der
Gestaltung, „l’ensemble des fonctions‟ würde Bichat sagen.

Noch eine Bemerkung in Bezug auf Plato; wiederum nur eine
Andeutung — denn zu jeder Ausführung fehlt mir der Raum —
genug aber, hoffe ich, damit nichts unklar bleibt. Dass indisches
Denken einen geradezu bestimmenden Einfluss auf die griechische
Philosophie ausgeübt hat, steht nunmehr fest; unsere Hellenisten und
Philosophen haben sich zwar lange mit dem wütenden Eigensinn
vorurteilsvoller Gelehrten dagegen gesträubt: alles sollte in Hellas
autochthon entstanden sein, höchstens die Ägypter und die Semiten
hätten bildend gewirkt — wobei allerdings für die Philosophie wenig
zu profitieren gewesen wäre; die neueren Indologen haben jedoch
das bestätigt gefunden, was die ältesten (namentlich der geniale Sir
William Jones) sofort vermutet hatten. Insbesondere ist für Pytha-
goras der Nachweis einer eingehenden Bekanntschaft mit indischen
Lehren ausführlich dargebracht worden,1) und da Pythagoras immer
deutlicher als der Stammvater des griechischen Denkens hervortritt,
ist das schon viel. Ausserdem ist eine unmittelbare Beeinflussung der
Eleaten, des Heraklit, des Anaxagoras, des Demokrit u. s. w., höchst
wahrscheinlich gemacht worden.2) Unter diesen Bedingungen kann
es nicht wunder nehmen, wenn ein so hoher Geist wie Plato durch
manche unverständige Zugabe hindurchdrang und — namentlich
betreffs etlicher Kernpunkte aller echten Methaphysik — mit den

1) Vergl. hierüber namentlich Schroeder: Pythagoras und die Inder (1884).
2) Die beste mir bekannte Zusammenstellung aus letzterer Zeit ist die von
Garbe in seiner Sâmkhya-Philosophie (1894), S. 85 fg.; dort findet man auch
die wichtigste Litteratur erwähnt.
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[80/0103] Das Erbe der alten Welt. Leben ist an und für sich ein Widerspruch; „la vie est l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort‟ sagte der grosse Bichat; jedes Lebendige hat darum zugleich etwas Fragmentarisches und etwas gewissermassen Willkürliches an sich; einzig durch die freie, poetische — doch nur bedingt gültige — Zuthat des Menschen gelingt es, die beiden Enden des magischen Gürtels an einander zu knüpfen; Kunst- werke bilden keine Ausnahme; Homer’s Ilias ist ein grossartiges Bei- spiel hiervon, Plato’s Weltanschauung ein zweites, Demokrit’s Welt- theorie ein ebenso bedeutendes. Und während die prächtig »logisch« ausgemeisselten Philosophien und Theorien eine nach der anderen in dem Abgrund der Zeit verschwinden, reihen sich jene alten Ideen noch jugendfrisch an unsere neuesten an. Man sieht: nicht die »objektive Wahrheit« ist das Ausschlaggebende, sondern die Art der Gestaltung, „l’ensemble des fonctions‟ würde Bichat sagen. Noch eine Bemerkung in Bezug auf Plato; wiederum nur eine Andeutung — denn zu jeder Ausführung fehlt mir der Raum — genug aber, hoffe ich, damit nichts unklar bleibt. Dass indisches Denken einen geradezu bestimmenden Einfluss auf die griechische Philosophie ausgeübt hat, steht nunmehr fest; unsere Hellenisten und Philosophen haben sich zwar lange mit dem wütenden Eigensinn vorurteilsvoller Gelehrten dagegen gesträubt: alles sollte in Hellas autochthon entstanden sein, höchstens die Ägypter und die Semiten hätten bildend gewirkt — wobei allerdings für die Philosophie wenig zu profitieren gewesen wäre; die neueren Indologen haben jedoch das bestätigt gefunden, was die ältesten (namentlich der geniale Sir William Jones) sofort vermutet hatten. Insbesondere ist für Pytha- goras der Nachweis einer eingehenden Bekanntschaft mit indischen Lehren ausführlich dargebracht worden, 1) und da Pythagoras immer deutlicher als der Stammvater des griechischen Denkens hervortritt, ist das schon viel. Ausserdem ist eine unmittelbare Beeinflussung der Eleaten, des Heraklit, des Anaxagoras, des Demokrit u. s. w., höchst wahrscheinlich gemacht worden. 2) Unter diesen Bedingungen kann es nicht wunder nehmen, wenn ein so hoher Geist wie Plato durch manche unverständige Zugabe hindurchdrang und — namentlich betreffs etlicher Kernpunkte aller echten Methaphysik — mit den 1) Vergl. hierüber namentlich Schroeder: Pythagoras und die Inder (1884). 2) Die beste mir bekannte Zusammenstellung aus letzterer Zeit ist die von Garbe in seiner Sâmkhya-Philosophie (1894), S. 85 fg.; dort findet man auch die wichtigste Litteratur erwähnt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/103>, abgerufen am 28.04.2024.