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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
die berühmte Stelle im Timäos, wo der Kosmos mit einem "leben-
digen Tiere" verglichen wird. Es muss vorgestellt und gestaltet
werden: das ist das Geheimnis des Griechen von Homer bis Archi-
medes. Plato's Ideenlehre verhält sich zur Metaphysik genau ebenso
wie Demokrit's Atomenlehre zur physischen Welt: es sind Werke einer
freischöpferischen, gestaltenden Kraft und in ihnen quillt, wie in allen
echten Kunstwerken, ein unerschöpflicher Born symbolischer Wahrheit.
Derartige Schöpfungen verhalten sich zu materiellen Thatsachen wie
die Sonne zu den Blumen. Nicht Segen allein empfingen wir von
den Hellenen; im Gegenteil, einiges, was von ihnen sich herleitet,
bedrückt noch wie ein banger Alp unsere aufstrebende Kultur; was
wir aber Gutes von ihnen erbten, war vor allem solcher Blüten
treibender Sonnenschein.

Aristoteles.

Unter dem unmittelbaren Einfluss Plato's schiesst einer der
kräftigsten Stämme in die Höhe, welche die Welt jemals erblickte:
Aristoteles. Dass Aristoteles sich in gewissen Beziehungen als
Gegensatz zu Plato entwickelte, ist in der Natur seines Intellektes
begründet; ohne Plato wäre er überhaupt kein Philosoph, wenigstens
kein Metaphysiker geworden. Eine kritische Würdigung dieses grossen
Mannes, wenn auch nur in Bezug auf den bestimmten Gegenstand
dieses Kapitels, ist mir unmöglich; sie würde zu weit führen. Ich
konnte ihn aber nicht ungenannt lassen, und ich darf wohl voraus-
setzen, dass die Gestaltungskraft, welche in seinem logischen "Organon",
in seiner "Tiergeschichte", in seiner "Poetik", u. s. w., sich verkündet
und durch alle seitherigen Jahrhunderte sich bewährt hat, Keinem
entgehen kann. Um mir ein Wort des Scotus Erigena anzueignen:
die naturalium rerum discretionis war das Gebiet auf dem er Uner-
reichtes schuf, die fernsten Geschlechter zu Dank verpflichtend. Nicht
dass er Recht hatte, war Aristoteles Grösse -- kein Mann ersten
Ranges hat sich öfter und flagranter geirrt als er --, sondern dass er
keine Ruhe kannte, bis er auf allen Gebieten des menschlichen Lebens
"gestaltet" und Ordnung im Chaos geschaffen hatte. Insofern ist
er ein echter Hellene. Freilich haben wir diese "Ordnung" teuer
bezahlt. Aristoteles war weniger Dichter als vielleicht irgend ein
anderer unter den bedeutenden Philosophen Griechenlands; Herder
sagt von ihm, er sei "vielleicht der trockenste Geist, der je den
Griffel geführt"1); er muss, glaube ich, selbst Herrn Professor Zeller

1) Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch XIII, Kap. 5.

Das Erbe der alten Welt.
die berühmte Stelle im Timäos, wo der Kosmos mit einem »leben-
digen Tiere« verglichen wird. Es muss vorgestellt und gestaltet
werden: das ist das Geheimnis des Griechen von Homer bis Archi-
medes. Plato’s Ideenlehre verhält sich zur Metaphysik genau ebenso
wie Demokrit’s Atomenlehre zur physischen Welt: es sind Werke einer
freischöpferischen, gestaltenden Kraft und in ihnen quillt, wie in allen
echten Kunstwerken, ein unerschöpflicher Born symbolischer Wahrheit.
Derartige Schöpfungen verhalten sich zu materiellen Thatsachen wie
die Sonne zu den Blumen. Nicht Segen allein empfingen wir von
den Hellenen; im Gegenteil, einiges, was von ihnen sich herleitet,
bedrückt noch wie ein banger Alp unsere aufstrebende Kultur; was
wir aber Gutes von ihnen erbten, war vor allem solcher Blüten
treibender Sonnenschein.

Aristoteles.

Unter dem unmittelbaren Einfluss Plato’s schiesst einer der
kräftigsten Stämme in die Höhe, welche die Welt jemals erblickte:
Aristoteles. Dass Aristoteles sich in gewissen Beziehungen als
Gegensatz zu Plato entwickelte, ist in der Natur seines Intellektes
begründet; ohne Plato wäre er überhaupt kein Philosoph, wenigstens
kein Metaphysiker geworden. Eine kritische Würdigung dieses grossen
Mannes, wenn auch nur in Bezug auf den bestimmten Gegenstand
dieses Kapitels, ist mir unmöglich; sie würde zu weit führen. Ich
konnte ihn aber nicht ungenannt lassen, und ich darf wohl voraus-
setzen, dass die Gestaltungskraft, welche in seinem logischen »Organon«,
in seiner »Tiergeschichte«, in seiner »Poetik«, u. s. w., sich verkündet
und durch alle seitherigen Jahrhunderte sich bewährt hat, Keinem
entgehen kann. Um mir ein Wort des Scotus Erigena anzueignen:
die naturalium rerum discretionis war das Gebiet auf dem er Uner-
reichtes schuf, die fernsten Geschlechter zu Dank verpflichtend. Nicht
dass er Recht hatte, war Aristoteles Grösse — kein Mann ersten
Ranges hat sich öfter und flagranter geirrt als er —, sondern dass er
keine Ruhe kannte, bis er auf allen Gebieten des menschlichen Lebens
»gestaltet« und Ordnung im Chaos geschaffen hatte. Insofern ist
er ein echter Hellene. Freilich haben wir diese »Ordnung« teuer
bezahlt. Aristoteles war weniger Dichter als vielleicht irgend ein
anderer unter den bedeutenden Philosophen Griechenlands; Herder
sagt von ihm, er sei »vielleicht der trockenste Geist, der je den
Griffel geführt«1); er muss, glaube ich, selbst Herrn Professor Zeller

1) Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch XIII, Kap. 5.
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[82/0105] Das Erbe der alten Welt. die berühmte Stelle im Timäos, wo der Kosmos mit einem »leben- digen Tiere« verglichen wird. Es muss vorgestellt und gestaltet werden: das ist das Geheimnis des Griechen von Homer bis Archi- medes. Plato’s Ideenlehre verhält sich zur Metaphysik genau ebenso wie Demokrit’s Atomenlehre zur physischen Welt: es sind Werke einer freischöpferischen, gestaltenden Kraft und in ihnen quillt, wie in allen echten Kunstwerken, ein unerschöpflicher Born symbolischer Wahrheit. Derartige Schöpfungen verhalten sich zu materiellen Thatsachen wie die Sonne zu den Blumen. Nicht Segen allein empfingen wir von den Hellenen; im Gegenteil, einiges, was von ihnen sich herleitet, bedrückt noch wie ein banger Alp unsere aufstrebende Kultur; was wir aber Gutes von ihnen erbten, war vor allem solcher Blüten treibender Sonnenschein. Unter dem unmittelbaren Einfluss Plato’s schiesst einer der kräftigsten Stämme in die Höhe, welche die Welt jemals erblickte: Aristoteles. Dass Aristoteles sich in gewissen Beziehungen als Gegensatz zu Plato entwickelte, ist in der Natur seines Intellektes begründet; ohne Plato wäre er überhaupt kein Philosoph, wenigstens kein Metaphysiker geworden. Eine kritische Würdigung dieses grossen Mannes, wenn auch nur in Bezug auf den bestimmten Gegenstand dieses Kapitels, ist mir unmöglich; sie würde zu weit führen. Ich konnte ihn aber nicht ungenannt lassen, und ich darf wohl voraus- setzen, dass die Gestaltungskraft, welche in seinem logischen »Organon«, in seiner »Tiergeschichte«, in seiner »Poetik«, u. s. w., sich verkündet und durch alle seitherigen Jahrhunderte sich bewährt hat, Keinem entgehen kann. Um mir ein Wort des Scotus Erigena anzueignen: die naturalium rerum discretionis war das Gebiet auf dem er Uner- reichtes schuf, die fernsten Geschlechter zu Dank verpflichtend. Nicht dass er Recht hatte, war Aristoteles Grösse — kein Mann ersten Ranges hat sich öfter und flagranter geirrt als er —, sondern dass er keine Ruhe kannte, bis er auf allen Gebieten des menschlichen Lebens »gestaltet« und Ordnung im Chaos geschaffen hatte. Insofern ist er ein echter Hellene. Freilich haben wir diese »Ordnung« teuer bezahlt. Aristoteles war weniger Dichter als vielleicht irgend ein anderer unter den bedeutenden Philosophen Griechenlands; Herder sagt von ihm, er sei »vielleicht der trockenste Geist, der je den Griffel geführt« 1); er muss, glaube ich, selbst Herrn Professor Zeller 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit, Buch XIII, Kap. 5.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/105>, abgerufen am 28.04.2024.