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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
zudämpfen und unsren Himmel dauernd mit sonnenfeindlichen Wolken
zu überziehen. Auf Einiges, was wir von der hellenischen Erbschaft
in diesem Jahrhundert noch mitschleppen und was wir gut und gern
hätten entbehren können, wäre erst im zweiten Band dieses Buches
einzugehen; einiges Andere muss gleich hier erörtert werden. Zu-
nächst, was an der Oberfläche des griechischen Lebens liegt.

Dass wir z. B. heute noch, wo so viel Grosses und Wichtiges
unsere Aufmerksamkeit vollauf beanspruchen müsste, wo sich inzwischen
endlose Schätze des Denkens, des Dichtens und vor allem des Wissens
aufgestapelt haben, von welchen die weisesten Hellenen nicht das
Geringste ahnten und an welchen teilzunehmen das angeborene Recht
jedes Kindes sein müsste, dass wir da noch immer verpflichtet werden,
kostbare Zeit auf die Erlernung aller Einzelheiten der erbärmlichen
Geschichte der Griechen zu verwenden, unser armes Gehirn mit
endlosen Namenregistern ruhmrediger Herren auf ades, atos, enes,
eiton,
u. s. w. vollzupfropfen und uns womöglich für die politischen
Schicksale dieser grausamen, kurzsichtigen, von Selbstliebe geblendeten,
auf Sklavenwirtschaft und Müssiggängerei beruhenden Demokratien zu
begeistern -- das ist ein hartes Schicksal, an dem jedoch, wohl über-
legt, nicht die Griechen die Schuld tragen, sondern unsere eigene
Borniertheit.1) Gewiss gaben die Hellenen häufig -- häufig allerdings

1) Ich sagte "grausam", und in der That ist dieser Zug einer der am
meisten charakteristischen für die Hellenen, ihnen mit den Semiten gemeinsam.
Humanität, Milde, Vergebung waren ihnen ebenso unbekannt wie Wahrheitsliebe.
Als sie bei den Persern zum erstenmal diesen Tugenden begegnen, berichten die
griechischen Historiker erstaunt und fast verlegen darüber: Gefangene schonen,
einen besiegten Fürsten königlich aufnehmen, Gesandte des Feindes bewirten und
beschenken, anstatt sie (wie die Lakedämonier und die Athener, siehe Herodot VII,
133) zu töten, Nachsicht gegen Verbrecher, Grossmut sogar gegen Spione,
die Zumutung, die erste Pflicht eines jeden Menschen sei es, die Wahrheit zu
reden, die Undankbarkeit ein vom Staat bestraftes Verbrechen, das alles dünkt
einem Herodot, einem Xenophon u. s. w. fast eben so lächerlich wie die persische
Sitte, nicht in Gegenwart anderer zu spucken, sowie sonstige auf den Anstand
bezügliche Vorschriften (siehe z. B. Herodot I, 133 u. 138). Wie ist es nun im
Angesicht einer solchen Masse von unbezweifelbaren Thatsachen möglich, dass
unsere Historiker unentwegt fortfahren dürfen, Geschichte prinzipiell zu fälschen?
Leopold von Ranke zum Beispiel erzählt in seiner Weltgeschichte (Text-
Ausgabe I, 129) die bekannte Anekdote von der schmachvollen Behandlung der
Leiche des Leonidas, und wie Pausanias den Vorschlag abwies, sich durch eine
ähnliche Versündigung an der Leiche des persischen Feldherrn Mardonius zu
rächen, und fährt dann fort: "Eine Welt von Gedanken knüpft sich an diese
Weigerung. Der Gegensatz zwischen Orient und Occident spricht sich darin auf

Hellenische Kunst und Philosophie.
zudämpfen und unsren Himmel dauernd mit sonnenfeindlichen Wolken
zu überziehen. Auf Einiges, was wir von der hellenischen Erbschaft
in diesem Jahrhundert noch mitschleppen und was wir gut und gern
hätten entbehren können, wäre erst im zweiten Band dieses Buches
einzugehen; einiges Andere muss gleich hier erörtert werden. Zu-
nächst, was an der Oberfläche des griechischen Lebens liegt.

Dass wir z. B. heute noch, wo so viel Grosses und Wichtiges
unsere Aufmerksamkeit vollauf beanspruchen müsste, wo sich inzwischen
endlose Schätze des Denkens, des Dichtens und vor allem des Wissens
aufgestapelt haben, von welchen die weisesten Hellenen nicht das
Geringste ahnten und an welchen teilzunehmen das angeborene Recht
jedes Kindes sein müsste, dass wir da noch immer verpflichtet werden,
kostbare Zeit auf die Erlernung aller Einzelheiten der erbärmlichen
Geschichte der Griechen zu verwenden, unser armes Gehirn mit
endlosen Namenregistern ruhmrediger Herren auf ades, atos, enes,
eiton,
u. s. w. vollzupfropfen und uns womöglich für die politischen
Schicksale dieser grausamen, kurzsichtigen, von Selbstliebe geblendeten,
auf Sklavenwirtschaft und Müssiggängerei beruhenden Demokratien zu
begeistern — das ist ein hartes Schicksal, an dem jedoch, wohl über-
legt, nicht die Griechen die Schuld tragen, sondern unsere eigene
Borniertheit.1) Gewiss gaben die Hellenen häufig — häufig allerdings

1) Ich sagte »grausam«, und in der That ist dieser Zug einer der am
meisten charakteristischen für die Hellenen, ihnen mit den Semiten gemeinsam.
Humanität, Milde, Vergebung waren ihnen ebenso unbekannt wie Wahrheitsliebe.
Als sie bei den Persern zum erstenmal diesen Tugenden begegnen, berichten die
griechischen Historiker erstaunt und fast verlegen darüber: Gefangene schonen,
einen besiegten Fürsten königlich aufnehmen, Gesandte des Feindes bewirten und
beschenken, anstatt sie (wie die Lakedämonier und die Athener, siehe Herodot VII,
133) zu töten, Nachsicht gegen Verbrecher, Grossmut sogar gegen Spione,
die Zumutung, die erste Pflicht eines jeden Menschen sei es, die Wahrheit zu
reden, die Undankbarkeit ein vom Staat bestraftes Verbrechen, das alles dünkt
einem Herodot, einem Xenophon u. s. w. fast eben so lächerlich wie die persische
Sitte, nicht in Gegenwart anderer zu spucken, sowie sonstige auf den Anstand
bezügliche Vorschriften (siehe z. B. Herodot I, 133 u. 138). Wie ist es nun im
Angesicht einer solchen Masse von unbezweifelbaren Thatsachen möglich, dass
unsere Historiker unentwegt fortfahren dürfen, Geschichte prinzipiell zu fälschen?
Leopold von Ranke zum Beispiel erzählt in seiner Weltgeschichte (Text-
Ausgabe I, 129) die bekannte Anekdote von der schmachvollen Behandlung der
Leiche des Leonidas, und wie Pausanias den Vorschlag abwies, sich durch eine
ähnliche Versündigung an der Leiche des persischen Feldherrn Mardonius zu
rächen, und fährt dann fort: »Eine Welt von Gedanken knüpft sich an diese
Weigerung. Der Gegensatz zwischen Orient und Occident spricht sich darin auf
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[91/0114] Hellenische Kunst und Philosophie. zudämpfen und unsren Himmel dauernd mit sonnenfeindlichen Wolken zu überziehen. Auf Einiges, was wir von der hellenischen Erbschaft in diesem Jahrhundert noch mitschleppen und was wir gut und gern hätten entbehren können, wäre erst im zweiten Band dieses Buches einzugehen; einiges Andere muss gleich hier erörtert werden. Zu- nächst, was an der Oberfläche des griechischen Lebens liegt. Dass wir z. B. heute noch, wo so viel Grosses und Wichtiges unsere Aufmerksamkeit vollauf beanspruchen müsste, wo sich inzwischen endlose Schätze des Denkens, des Dichtens und vor allem des Wissens aufgestapelt haben, von welchen die weisesten Hellenen nicht das Geringste ahnten und an welchen teilzunehmen das angeborene Recht jedes Kindes sein müsste, dass wir da noch immer verpflichtet werden, kostbare Zeit auf die Erlernung aller Einzelheiten der erbärmlichen Geschichte der Griechen zu verwenden, unser armes Gehirn mit endlosen Namenregistern ruhmrediger Herren auf ades, atos, enes, eiton, u. s. w. vollzupfropfen und uns womöglich für die politischen Schicksale dieser grausamen, kurzsichtigen, von Selbstliebe geblendeten, auf Sklavenwirtschaft und Müssiggängerei beruhenden Demokratien zu begeistern — das ist ein hartes Schicksal, an dem jedoch, wohl über- legt, nicht die Griechen die Schuld tragen, sondern unsere eigene Borniertheit. 1) Gewiss gaben die Hellenen häufig — häufig allerdings 1) Ich sagte »grausam«, und in der That ist dieser Zug einer der am meisten charakteristischen für die Hellenen, ihnen mit den Semiten gemeinsam. Humanität, Milde, Vergebung waren ihnen ebenso unbekannt wie Wahrheitsliebe. Als sie bei den Persern zum erstenmal diesen Tugenden begegnen, berichten die griechischen Historiker erstaunt und fast verlegen darüber: Gefangene schonen, einen besiegten Fürsten königlich aufnehmen, Gesandte des Feindes bewirten und beschenken, anstatt sie (wie die Lakedämonier und die Athener, siehe Herodot VII, 133) zu töten, Nachsicht gegen Verbrecher, Grossmut sogar gegen Spione, die Zumutung, die erste Pflicht eines jeden Menschen sei es, die Wahrheit zu reden, die Undankbarkeit ein vom Staat bestraftes Verbrechen, das alles dünkt einem Herodot, einem Xenophon u. s. w. fast eben so lächerlich wie die persische Sitte, nicht in Gegenwart anderer zu spucken, sowie sonstige auf den Anstand bezügliche Vorschriften (siehe z. B. Herodot I, 133 u. 138). Wie ist es nun im Angesicht einer solchen Masse von unbezweifelbaren Thatsachen möglich, dass unsere Historiker unentwegt fortfahren dürfen, Geschichte prinzipiell zu fälschen? Leopold von Ranke zum Beispiel erzählt in seiner Weltgeschichte (Text- Ausgabe I, 129) die bekannte Anekdote von der schmachvollen Behandlung der Leiche des Leonidas, und wie Pausanias den Vorschlag abwies, sich durch eine ähnliche Versündigung an der Leiche des persischen Feldherrn Mardonius zu rächen, und fährt dann fort: »Eine Welt von Gedanken knüpft sich an diese Weigerung. Der Gegensatz zwischen Orient und Occident spricht sich darin auf

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/114>, abgerufen am 29.04.2024.