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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
um nach eigenem souverän-künstlerischen Urteil zu gestalten. Diese
Religion ist jeglichem Spuk- und Gespensterglauben, jeglichem pfäffi-
schen Formelwesen abhold; alles, was in Ilias und Odyssee vom
populären Seelenkult und dergleichen vorkommt, ist wunderbar ge-
klärt, des Schreckhaften entkleidet, zur ewigen Wahrheit eines Symbo-
lischen geadelt; ebenso feind ist diese Religion aller Vernünftelei, allen
müssigen Fragen nach Ursache und Zweck, jener rationalistischen
Richtung also, welche sich in der Folge als die blosse Kehrseite des
Aberglaubens entpuppt hat. So lange jene Vorstellungen, welche in
Homer und einigen anderen grossen Dichtern ihren vollendetsten
Ausdruck gefunden hatten, im Volke noch wirklich lebten, und inso-
fern sie noch lebten, hat die griechische Religion ein ideales Element
besessen; später (namentlich in Alexandrien und Rom) war sie ein
Amalgam von pyrrhonischer, spöttischer Universalskepsis, krassem
Zauber-Aberglauben und spitzfindigem Scholasticismus. Untergraben
wurde das schöne Gebäude von zwei verschiedenen Richtungen aus,
von Männern, die wenig Gemeinsames zu besitzen schienen, die sich
später aber doch brüderlich die Hand reichten, als der homerische
Parthenon (d. h. "Tempel der Jungfrau") ein Trümmerhaufe geworden
und darinnen eine philologische Steinschleiferei errichtet worden war:
diese zwei Parteien waren die, welche bei Homer keine Gnade ge-
funden hatten: der pfäffische Aberglaube und die vernünftelnde
Kausalitätsjägerei.1)

Die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnographie erlauben
es, glaube ich, zwischen Aberglauben und Religion zu unterscheiden.
Den Aberglauben finden wir überall, auf der ganzen Erde, und zwar
in bestimmten, an allen Orten und bei den verschiedensten Menschen-
stämmen sehr ähnlichen, einem nachweisbaren Entwickelungsgesetze
unterworfenen Formen; im Grunde genommen ist er unausrottbar.
Die Religion dagegen, als ein der Phantasie vorschwebendes Gesamt-
bild der Weltordnung, wechselt unendlich mit den Zeiten und den
Völkern; manche Stämme (z. B. die Chinesen) haben wenig oder gar
kein religiöses Bedürfnis, andere ein sehr ausgesprochenes; die Religion
kann metaphysisch, materialistisch, symbolistisch sein, immer -- auch

1) Dass es zu Homer's Zeiten keine Philosophen gegeben haben mag, thut
nichts zur Sache; die Thatsache, dass bei ihm nichts "erklärt" wird, dass nicht
der geringste Versuch einer Kosmogonie vorliegt, deutet die Richtung seines Geistes
genügend an. Hesiod ist schon ein offenbarer Rückschritt, noch immer aber zu
grossartig symbolisch, um bei irgend einem Rationalisten Gnade zu finden.

Das Erbe der alten Welt.
um nach eigenem souverän-künstlerischen Urteil zu gestalten. Diese
Religion ist jeglichem Spuk- und Gespensterglauben, jeglichem pfäffi-
schen Formelwesen abhold; alles, was in Ilias und Odyssee vom
populären Seelenkult und dergleichen vorkommt, ist wunderbar ge-
klärt, des Schreckhaften entkleidet, zur ewigen Wahrheit eines Symbo-
lischen geadelt; ebenso feind ist diese Religion aller Vernünftelei, allen
müssigen Fragen nach Ursache und Zweck, jener rationalistischen
Richtung also, welche sich in der Folge als die blosse Kehrseite des
Aberglaubens entpuppt hat. So lange jene Vorstellungen, welche in
Homer und einigen anderen grossen Dichtern ihren vollendetsten
Ausdruck gefunden hatten, im Volke noch wirklich lebten, und inso-
fern sie noch lebten, hat die griechische Religion ein ideales Element
besessen; später (namentlich in Alexandrien und Rom) war sie ein
Amalgam von pyrrhonischer, spöttischer Universalskepsis, krassem
Zauber-Aberglauben und spitzfindigem Scholasticismus. Untergraben
wurde das schöne Gebäude von zwei verschiedenen Richtungen aus,
von Männern, die wenig Gemeinsames zu besitzen schienen, die sich
später aber doch brüderlich die Hand reichten, als der homerische
Parthenon (d. h. »Tempel der Jungfrau«) ein Trümmerhaufe geworden
und darinnen eine philologische Steinschleiferei errichtet worden war:
diese zwei Parteien waren die, welche bei Homer keine Gnade ge-
funden hatten: der pfäffische Aberglaube und die vernünftelnde
Kausalitätsjägerei.1)

Die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnographie erlauben
es, glaube ich, zwischen Aberglauben und Religion zu unterscheiden.
Den Aberglauben finden wir überall, auf der ganzen Erde, und zwar
in bestimmten, an allen Orten und bei den verschiedensten Menschen-
stämmen sehr ähnlichen, einem nachweisbaren Entwickelungsgesetze
unterworfenen Formen; im Grunde genommen ist er unausrottbar.
Die Religion dagegen, als ein der Phantasie vorschwebendes Gesamt-
bild der Weltordnung, wechselt unendlich mit den Zeiten und den
Völkern; manche Stämme (z. B. die Chinesen) haben wenig oder gar
kein religiöses Bedürfnis, andere ein sehr ausgesprochenes; die Religion
kann metaphysisch, materialistisch, symbolistisch sein, immer — auch

1) Dass es zu Homer’s Zeiten keine Philosophen gegeben haben mag, thut
nichts zur Sache; die Thatsache, dass bei ihm nichts »erklärt« wird, dass nicht
der geringste Versuch einer Kosmogonie vorliegt, deutet die Richtung seines Geistes
genügend an. Hesiod ist schon ein offenbarer Rückschritt, noch immer aber zu
grossartig symbolisch, um bei irgend einem Rationalisten Gnade zu finden.
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[100/0123] Das Erbe der alten Welt. um nach eigenem souverän-künstlerischen Urteil zu gestalten. Diese Religion ist jeglichem Spuk- und Gespensterglauben, jeglichem pfäffi- schen Formelwesen abhold; alles, was in Ilias und Odyssee vom populären Seelenkult und dergleichen vorkommt, ist wunderbar ge- klärt, des Schreckhaften entkleidet, zur ewigen Wahrheit eines Symbo- lischen geadelt; ebenso feind ist diese Religion aller Vernünftelei, allen müssigen Fragen nach Ursache und Zweck, jener rationalistischen Richtung also, welche sich in der Folge als die blosse Kehrseite des Aberglaubens entpuppt hat. So lange jene Vorstellungen, welche in Homer und einigen anderen grossen Dichtern ihren vollendetsten Ausdruck gefunden hatten, im Volke noch wirklich lebten, und inso- fern sie noch lebten, hat die griechische Religion ein ideales Element besessen; später (namentlich in Alexandrien und Rom) war sie ein Amalgam von pyrrhonischer, spöttischer Universalskepsis, krassem Zauber-Aberglauben und spitzfindigem Scholasticismus. Untergraben wurde das schöne Gebäude von zwei verschiedenen Richtungen aus, von Männern, die wenig Gemeinsames zu besitzen schienen, die sich später aber doch brüderlich die Hand reichten, als der homerische Parthenon (d. h. »Tempel der Jungfrau«) ein Trümmerhaufe geworden und darinnen eine philologische Steinschleiferei errichtet worden war: diese zwei Parteien waren die, welche bei Homer keine Gnade ge- funden hatten: der pfäffische Aberglaube und die vernünftelnde Kausalitätsjägerei. 1) Die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnographie erlauben es, glaube ich, zwischen Aberglauben und Religion zu unterscheiden. Den Aberglauben finden wir überall, auf der ganzen Erde, und zwar in bestimmten, an allen Orten und bei den verschiedensten Menschen- stämmen sehr ähnlichen, einem nachweisbaren Entwickelungsgesetze unterworfenen Formen; im Grunde genommen ist er unausrottbar. Die Religion dagegen, als ein der Phantasie vorschwebendes Gesamt- bild der Weltordnung, wechselt unendlich mit den Zeiten und den Völkern; manche Stämme (z. B. die Chinesen) haben wenig oder gar kein religiöses Bedürfnis, andere ein sehr ausgesprochenes; die Religion kann metaphysisch, materialistisch, symbolistisch sein, immer — auch 1) Dass es zu Homer’s Zeiten keine Philosophen gegeben haben mag, thut nichts zur Sache; die Thatsache, dass bei ihm nichts »erklärt« wird, dass nicht der geringste Versuch einer Kosmogonie vorliegt, deutet die Richtung seines Geistes genügend an. Hesiod ist schon ein offenbarer Rückschritt, noch immer aber zu grossartig symbolisch, um bei irgend einem Rationalisten Gnade zu finden.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/123>, abgerufen am 29.04.2024.