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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
später, als der griechische Geist zur Neige ging, und der Götterglaube
nur noch Formelwesen war, mächtig angeschwollen hervorbrach und
sich mit dem inzwischen aus verschiedenen Quellen reichlich gespeisten
rationalistischen Scholasticismus vereinte, um schliesslich im pseudo-
semitischen Neoplatonismus das grinsende Zerrbild hoher, freier Geistes-
thaten zu geben. Jener Strom des Volksglaubens, gebändigt in dem
durch die Tragödie zur höchsten künstlerischen Vollkommenheit ge-
langten Dionysischen Kult, floss unterirdisch weiter über Delphi und
Eleusis; seine erste, reichste Quelle bildete der uralte Seelenkult, das
furchtsame und ehrfürchtige Gedenken an die Toten; daran knüpfte
sich, durch eine unvermeidliche Progression, nach und nach (und in
verschiedenen Formen) der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele.
Zweifellos hatten die Hellenen den Grundstock zu ihren verschiedenen
Aberglauben aus der früheren Heimat mitgebracht; neue Elemente
kamen aber immer wieder hinzu, teils als semitische Einfuhr von
den kleinasiatischen Küsten und Inseln,1) noch nachhaltiger und auf-
wühlender jedoch aus jenem Norden, den die Griechen zu verachten
wähnten. Nicht Dichter waren die Verkünder dieser heiligen "er-
lösenden" Mysterien, sondern Sibyllen, Bakiden, pythische Orakel-
sprecherinnen; der ekstatische Wahnsinn ergriff oft einen Gau nach
dem anderen, ganze Bevölkerungen wurden toll, die Söhne der Helden,
die vor Troja gekämpft hatten, schwangen sich im Kreise herum,
wie die heutigen Derwische, Mütter erwürgten mit eigenen Händen
ihre Kinder -- -- -- Diese Leute aber waren es, welche den eigent-
lichen Seelenglauben gross zogen, und auch der Glaube an die Un-
sterblichkeit der Seele drang durch sie aus Thrakien in Griechenland
ein.2) Im bacchantischen Wirbeltanz hatte sich also (für das Volk der

1) Es scheint nicht, dass die semitischen Völker in alter Zeit an die Unsterb-
lichkeit der individuellen Seele geglaubt hätten; ihre Kulte boten aber für den
Hellenen, sobald er jenen Gedanken erfasste, wichtige Anregungen. Das phönizische
Göttersystem der Kabirim (d. h. der sieben Gewaltigen) fanden z. B. die Griechen
auf Lemnos, Rhodos und anderen Inseln vor, und Duncker schreibt darüber
(Geschichte des Altertums, I4, 279): "Der Mythos von Melkart und der Astarte,
die in den Kreis dieser Götter aufgenommen war, Melkart, der die verschwundene
Mondgöttin im Lande der Dunkelheit wiederfindet und aus diesem mit ihr zu
neuem Licht und Leben zurückkehrt -- -- -- gewährte den Griechen Anlass, die
Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, welche sich seit dem Anfang des 6. Jahr-
hunderts bei ihnen ausbildeten, auch an den Geheimdienst der Kabiren zu knüpfen."
2) Dass dieser Glaube (nach Herodot, IV, 93) im indoeuropäischen Stamme
der Geten lebendig war und von dort aus nach Griechenland eindrang, ist nicht

Das Erbe der alten Welt.
später, als der griechische Geist zur Neige ging, und der Götterglaube
nur noch Formelwesen war, mächtig angeschwollen hervorbrach und
sich mit dem inzwischen aus verschiedenen Quellen reichlich gespeisten
rationalistischen Scholasticismus vereinte, um schliesslich im pseudo-
semitischen Neoplatonismus das grinsende Zerrbild hoher, freier Geistes-
thaten zu geben. Jener Strom des Volksglaubens, gebändigt in dem
durch die Tragödie zur höchsten künstlerischen Vollkommenheit ge-
langten Dionysischen Kult, floss unterirdisch weiter über Delphi und
Eleusis; seine erste, reichste Quelle bildete der uralte Seelenkult, das
furchtsame und ehrfürchtige Gedenken an die Toten; daran knüpfte
sich, durch eine unvermeidliche Progression, nach und nach (und in
verschiedenen Formen) der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele.
Zweifellos hatten die Hellenen den Grundstock zu ihren verschiedenen
Aberglauben aus der früheren Heimat mitgebracht; neue Elemente
kamen aber immer wieder hinzu, teils als semitische Einfuhr von
den kleinasiatischen Küsten und Inseln,1) noch nachhaltiger und auf-
wühlender jedoch aus jenem Norden, den die Griechen zu verachten
wähnten. Nicht Dichter waren die Verkünder dieser heiligen »er-
lösenden« Mysterien, sondern Sibyllen, Bakiden, pythische Orakel-
sprecherinnen; der ekstatische Wahnsinn ergriff oft einen Gau nach
dem anderen, ganze Bevölkerungen wurden toll, die Söhne der Helden,
die vor Troja gekämpft hatten, schwangen sich im Kreise herum,
wie die heutigen Derwische, Mütter erwürgten mit eigenen Händen
ihre Kinder — — — Diese Leute aber waren es, welche den eigent-
lichen Seelenglauben gross zogen, und auch der Glaube an die Un-
sterblichkeit der Seele drang durch sie aus Thrakien in Griechenland
ein.2) Im bacchantischen Wirbeltanz hatte sich also (für das Volk der

1) Es scheint nicht, dass die semitischen Völker in alter Zeit an die Unsterb-
lichkeit der individuellen Seele geglaubt hätten; ihre Kulte boten aber für den
Hellenen, sobald er jenen Gedanken erfasste, wichtige Anregungen. Das phönizische
Göttersystem der Kabirim (d. h. der sieben Gewaltigen) fanden z. B. die Griechen
auf Lemnos, Rhodos und anderen Inseln vor, und Duncker schreibt darüber
(Geschichte des Altertums, I4, 279): »Der Mythos von Melkart und der Astarte,
die in den Kreis dieser Götter aufgenommen war, Melkart, der die verschwundene
Mondgöttin im Lande der Dunkelheit wiederfindet und aus diesem mit ihr zu
neuem Licht und Leben zurückkehrt — — — gewährte den Griechen Anlass, die
Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, welche sich seit dem Anfang des 6. Jahr-
hunderts bei ihnen ausbildeten, auch an den Geheimdienst der Kabiren zu knüpfen.«
2) Dass dieser Glaube (nach Herodot, IV, 93) im indoeuropäischen Stamme
der Geten lebendig war und von dort aus nach Griechenland eindrang, ist nicht
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[102/0125] Das Erbe der alten Welt. später, als der griechische Geist zur Neige ging, und der Götterglaube nur noch Formelwesen war, mächtig angeschwollen hervorbrach und sich mit dem inzwischen aus verschiedenen Quellen reichlich gespeisten rationalistischen Scholasticismus vereinte, um schliesslich im pseudo- semitischen Neoplatonismus das grinsende Zerrbild hoher, freier Geistes- thaten zu geben. Jener Strom des Volksglaubens, gebändigt in dem durch die Tragödie zur höchsten künstlerischen Vollkommenheit ge- langten Dionysischen Kult, floss unterirdisch weiter über Delphi und Eleusis; seine erste, reichste Quelle bildete der uralte Seelenkult, das furchtsame und ehrfürchtige Gedenken an die Toten; daran knüpfte sich, durch eine unvermeidliche Progression, nach und nach (und in verschiedenen Formen) der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Zweifellos hatten die Hellenen den Grundstock zu ihren verschiedenen Aberglauben aus der früheren Heimat mitgebracht; neue Elemente kamen aber immer wieder hinzu, teils als semitische Einfuhr von den kleinasiatischen Küsten und Inseln, 1) noch nachhaltiger und auf- wühlender jedoch aus jenem Norden, den die Griechen zu verachten wähnten. Nicht Dichter waren die Verkünder dieser heiligen »er- lösenden« Mysterien, sondern Sibyllen, Bakiden, pythische Orakel- sprecherinnen; der ekstatische Wahnsinn ergriff oft einen Gau nach dem anderen, ganze Bevölkerungen wurden toll, die Söhne der Helden, die vor Troja gekämpft hatten, schwangen sich im Kreise herum, wie die heutigen Derwische, Mütter erwürgten mit eigenen Händen ihre Kinder — — — Diese Leute aber waren es, welche den eigent- lichen Seelenglauben gross zogen, und auch der Glaube an die Un- sterblichkeit der Seele drang durch sie aus Thrakien in Griechenland ein. 2) Im bacchantischen Wirbeltanz hatte sich also (für das Volk der 1) Es scheint nicht, dass die semitischen Völker in alter Zeit an die Unsterb- lichkeit der individuellen Seele geglaubt hätten; ihre Kulte boten aber für den Hellenen, sobald er jenen Gedanken erfasste, wichtige Anregungen. Das phönizische Göttersystem der Kabirim (d. h. der sieben Gewaltigen) fanden z. B. die Griechen auf Lemnos, Rhodos und anderen Inseln vor, und Duncker schreibt darüber (Geschichte des Altertums, I4, 279): »Der Mythos von Melkart und der Astarte, die in den Kreis dieser Götter aufgenommen war, Melkart, der die verschwundene Mondgöttin im Lande der Dunkelheit wiederfindet und aus diesem mit ihr zu neuem Licht und Leben zurückkehrt — — — gewährte den Griechen Anlass, die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, welche sich seit dem Anfang des 6. Jahr- hunderts bei ihnen ausbildeten, auch an den Geheimdienst der Kabiren zu knüpfen.« 2) Dass dieser Glaube (nach Herodot, IV, 93) im indoeuropäischen Stamme der Geten lebendig war und von dort aus nach Griechenland eindrang, ist nicht

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/125>, abgerufen am 29.04.2024.