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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
sein Leben lang umgab, durch alle Eindrücke, die Auge und Ohr
ihm übermittelten; er war nicht frei; in Folge seiner grossen Be-
gabung leistete er gewiss Grosses, nichts aber, was -- wie seine
Kunst -- höchsten Anforderungen der Harmonie, der Wahrheit, der
Allgemeingültigkeit entspräche. Bei der griechischen Kunst wirkt das
Nationale wie Schwingen, welche den Geist zu Höhen emportragen,
wo "alle Menschen Brüder werden", wo das Trennende der Zeiten
und Völker den Reiz eher erhöht als abstumpft; hellenische Philo-
sophie ist im Gegenteil im beengenden Sinne des Wortes an ein
bestimmtes nationales Leben gekettet und durch dasselbe allseitig
beschränkt.

Ungemein schwer ist es, mit einer solchen Einsicht gegen das
Vorurteil von Jahrhunderten aufzukommen. Selbst ein solcher Mann
wie Rhode nennt die Griechen "das gedankenreichste der Völker"
und behauptet, ihre Philosophen hätten "der ganzen Menschheit vor-
gedacht";1) Leopold von Ranke, der für die homerische Religion
kein anderes Epitheton kennt als "Götzendienst"(!), schreibt: "Was
Aristoteles über den Unterschied der thätigen und leidenden Vernunft
ausspricht, von denen jedoch nur die erste die wahre ist, autonom und
gottverwandt, also auch unsterblich, möchte ich für das Beste er-
klären, was über den menschlichen Geist gesagt werden konnte, vor-
behalten die Offenbarung. Dasselbe darf man, wenn ich nicht irre,
von der Seelenlehre Plato's sagen."2) Ranke belehrt uns weiter, die
Aufgabe der griechischen Philosophie sei es gewesen: "den alten
Glauben von dem götzendienerischen Element zu reinigen, rationelle
und religiöse Wahrheit zu vereinbaren"; die Demokratie aber habe
dieses edle Bestreben vereitelt, denn sie "hielt an dem Götzendienste
fest" (I, 230)3). Diese Beispiele mögen genügen; man könnte
zahlreiche anführen. Nach meiner Überzeugung ist das Alles Illusion,

1) Psyche, S. 104.
2) Weltgeschichte (Text-Ausgabe) I, 230. Dieser Weisheitsspruch erinnert
bedenklich an die bekannte Anekdote aus der Kinderstube: "Wen liebst du am
meisten, Papa oder Mama? Beide!" -- denn wenn auch Aristoteles von Plato
ausgegangen ist, etwas vom Grund aus Verschiedeneres als ihre Seelenlehren (sowie
ihre ganze Metaphysik) lässt sich kaum denken. Wie können denn beide zugleich
"das Beste" gesagt haben? Schopenhauer hat richtig und bündig geurteilt: "der
radikale Gegensatz des Aristoteles ist Plato".
3) O vierundzwanzigstes Jahrhundert! was sagst du dazu? Ich für mein
Teil schweige -- wenigstens über Persönlichkeiten -- und folge dem Beispiele
des weisen Sokrates, indem ich den Götzen meines Jahrhunderts einen Hahn opfere!

Hellenische Kunst und Philosophie.
sein Leben lang umgab, durch alle Eindrücke, die Auge und Ohr
ihm übermittelten; er war nicht frei; in Folge seiner grossen Be-
gabung leistete er gewiss Grosses, nichts aber, was — wie seine
Kunst — höchsten Anforderungen der Harmonie, der Wahrheit, der
Allgemeingültigkeit entspräche. Bei der griechischen Kunst wirkt das
Nationale wie Schwingen, welche den Geist zu Höhen emportragen,
wo »alle Menschen Brüder werden«, wo das Trennende der Zeiten
und Völker den Reiz eher erhöht als abstumpft; hellenische Philo-
sophie ist im Gegenteil im beengenden Sinne des Wortes an ein
bestimmtes nationales Leben gekettet und durch dasselbe allseitig
beschränkt.

Ungemein schwer ist es, mit einer solchen Einsicht gegen das
Vorurteil von Jahrhunderten aufzukommen. Selbst ein solcher Mann
wie Rhode nennt die Griechen »das gedankenreichste der Völker«
und behauptet, ihre Philosophen hätten »der ganzen Menschheit vor-
gedacht«;1) Leopold von Ranke, der für die homerische Religion
kein anderes Epitheton kennt als »Götzendienst«(!), schreibt: »Was
Aristoteles über den Unterschied der thätigen und leidenden Vernunft
ausspricht, von denen jedoch nur die erste die wahre ist, autonom und
gottverwandt, also auch unsterblich, möchte ich für das Beste er-
klären, was über den menschlichen Geist gesagt werden konnte, vor-
behalten die Offenbarung. Dasselbe darf man, wenn ich nicht irre,
von der Seelenlehre Plato’s sagen.«2) Ranke belehrt uns weiter, die
Aufgabe der griechischen Philosophie sei es gewesen: »den alten
Glauben von dem götzendienerischen Element zu reinigen, rationelle
und religiöse Wahrheit zu vereinbaren«; die Demokratie aber habe
dieses edle Bestreben vereitelt, denn sie »hielt an dem Götzendienste
fest« (I, 230)3). Diese Beispiele mögen genügen; man könnte
zahlreiche anführen. Nach meiner Überzeugung ist das Alles Illusion,

1) Psyche, S. 104.
2) Weltgeschichte (Text-Ausgabe) I, 230. Dieser Weisheitsspruch erinnert
bedenklich an die bekannte Anekdote aus der Kinderstube: »Wen liebst du am
meisten, Papa oder Mama? Beide!« — denn wenn auch Aristoteles von Plato
ausgegangen ist, etwas vom Grund aus Verschiedeneres als ihre Seelenlehren (sowie
ihre ganze Metaphysik) lässt sich kaum denken. Wie können denn beide zugleich
»das Beste« gesagt haben? Schopenhauer hat richtig und bündig geurteilt: »der
radikale Gegensatz des Aristoteles ist Plato«.
3) O vierundzwanzigstes Jahrhundert! was sagst du dazu? Ich für mein
Teil schweige — wenigstens über Persönlichkeiten — und folge dem Beispiele
des weisen Sokrates, indem ich den Götzen meines Jahrhunderts einen Hahn opfere!
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[109/0132] Hellenische Kunst und Philosophie. sein Leben lang umgab, durch alle Eindrücke, die Auge und Ohr ihm übermittelten; er war nicht frei; in Folge seiner grossen Be- gabung leistete er gewiss Grosses, nichts aber, was — wie seine Kunst — höchsten Anforderungen der Harmonie, der Wahrheit, der Allgemeingültigkeit entspräche. Bei der griechischen Kunst wirkt das Nationale wie Schwingen, welche den Geist zu Höhen emportragen, wo »alle Menschen Brüder werden«, wo das Trennende der Zeiten und Völker den Reiz eher erhöht als abstumpft; hellenische Philo- sophie ist im Gegenteil im beengenden Sinne des Wortes an ein bestimmtes nationales Leben gekettet und durch dasselbe allseitig beschränkt. Ungemein schwer ist es, mit einer solchen Einsicht gegen das Vorurteil von Jahrhunderten aufzukommen. Selbst ein solcher Mann wie Rhode nennt die Griechen »das gedankenreichste der Völker« und behauptet, ihre Philosophen hätten »der ganzen Menschheit vor- gedacht«; 1) Leopold von Ranke, der für die homerische Religion kein anderes Epitheton kennt als »Götzendienst«(!), schreibt: »Was Aristoteles über den Unterschied der thätigen und leidenden Vernunft ausspricht, von denen jedoch nur die erste die wahre ist, autonom und gottverwandt, also auch unsterblich, möchte ich für das Beste er- klären, was über den menschlichen Geist gesagt werden konnte, vor- behalten die Offenbarung. Dasselbe darf man, wenn ich nicht irre, von der Seelenlehre Plato’s sagen.« 2) Ranke belehrt uns weiter, die Aufgabe der griechischen Philosophie sei es gewesen: »den alten Glauben von dem götzendienerischen Element zu reinigen, rationelle und religiöse Wahrheit zu vereinbaren«; die Demokratie aber habe dieses edle Bestreben vereitelt, denn sie »hielt an dem Götzendienste fest« (I, 230) 3). Diese Beispiele mögen genügen; man könnte zahlreiche anführen. Nach meiner Überzeugung ist das Alles Illusion, 1) Psyche, S. 104. 2) Weltgeschichte (Text-Ausgabe) I, 230. Dieser Weisheitsspruch erinnert bedenklich an die bekannte Anekdote aus der Kinderstube: »Wen liebst du am meisten, Papa oder Mama? Beide!« — denn wenn auch Aristoteles von Plato ausgegangen ist, etwas vom Grund aus Verschiedeneres als ihre Seelenlehren (sowie ihre ganze Metaphysik) lässt sich kaum denken. Wie können denn beide zugleich »das Beste« gesagt haben? Schopenhauer hat richtig und bündig geurteilt: »der radikale Gegensatz des Aristoteles ist Plato«. 3) O vierundzwanzigstes Jahrhundert! was sagst du dazu? Ich für mein Teil schweige — wenigstens über Persönlichkeiten — und folge dem Beispiele des weisen Sokrates, indem ich den Götzen meines Jahrhunderts einen Hahn opfere!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/132>, abgerufen am 29.04.2024.