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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
der eigentliche Aberglaube spielt jedoch bei ihm eine sehr unter-
geordnete Rolle und wird durch "göttliche" Deutung dem Bereiche
des eigentlichen Dämonentums enthoben; sein Weg war sonniger,
schöner als der des Indoariers; anstatt wie dieser in grübelnder
Metaphysik sich zu ergehen, heiligte er die empirische Welt und führte
dadurch den Menschen einer herrlichen Bestimmung entgegen.1) Da
kam der alte abergläubische, von pythischen Orakeln beratene, von
Priesterinnen belehrte, von Dämonen besessene Sokrates, und nach
ihm Plato und die anderen. O Hellenen! wäret ihr doch der Religion
des Homer und der durch sie begründeten künstlerischen Kultur treu
geblieben! Hättet ihr auf eure Heraklit und Xenophanes und Sokrates
und Plato, und wie sie alle noch heissen, nicht gehört, sondern euren
göttlichen Dichtern vertraut! Wehe uns, die wir durch diesen zur
geheiligten Orthodoxie erhobenen Dämonenglauben Jahrhunderte hin-
durch unsäglichen Jammer gelitten haben, die wir durch ihn in unserer
gesamten geistigen Entwickelung gehindert wurden, und die wir noch
heute wähnen müssen, von thrakischen Bauern umringt zu leben!2)

Nicht eine Spur besser steht es mit jenem hellenischen Denken,
welches nicht mystische Wege wandelt, noch poetischen Eingebungen
folgt, sondern eingestandenermassen an Naturwissenschaft anknüpft
und es mit Hilfe der Physiologie und der rationellen Psychologie
unternimmt, den grossen Problemen des Daseins beizukommen. Da
schlägt der griechische Geist sofort in Scholasticismus um, wie schon
oben angedeutet. "Worte, Worte, nichts als Worte!" Hier
würden nähere Auseinandersetzungen leider über den Rahmen dieses
Buches hinausführen. Wer aber vor höherer Philosophie sich scheut,

1) Siehe z. B. im XXIV. Gesang der Ilias (Vers 300 fg.) die Erscheinung
des Gutes vorbedeutenden Adlers "rechts einher". Äusserst bezeichnend sind im
selben Gesang die Worte des Priamos über ein ihm zu Teil gewordenes Gesicht
(Vers 220 fg.):
"Hätt' es ein Anderer mir der Erdenbewohner geboten,
Etwa ein Zeichendeuter, ein Opferprophet und ein Priester,
Lug wohl nennten wir solches, und wendeten uns mit Verachtung."
Prächtig ist ebenfalls bei Hesiod, wiewohl er dem Volksaberglauben viel näher
steht als Homer, die Auffassung der "Geister": (Werke und Tage, 124 fg.)
"Und sie wahren das Recht und wehren frevelnden Werken:
Überall über die Erde hinwandelnd, in Nebel gehüllet,
Spenden sie Segen: dies ist das Königsamt, das sie erhielten."
2) Döllinger nennt den "systematischen Dämonenglauben" eins der
"Danaer-Geschenke griechischen Wahnes" (Akad. Vorträge, I, 182).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 8

Hellenische Kunst und Philosophie.
der eigentliche Aberglaube spielt jedoch bei ihm eine sehr unter-
geordnete Rolle und wird durch »göttliche« Deutung dem Bereiche
des eigentlichen Dämonentums enthoben; sein Weg war sonniger,
schöner als der des Indoariers; anstatt wie dieser in grübelnder
Metaphysik sich zu ergehen, heiligte er die empirische Welt und führte
dadurch den Menschen einer herrlichen Bestimmung entgegen.1) Da
kam der alte abergläubische, von pythischen Orakeln beratene, von
Priesterinnen belehrte, von Dämonen besessene Sokrates, und nach
ihm Plato und die anderen. O Hellenen! wäret ihr doch der Religion
des Homer und der durch sie begründeten künstlerischen Kultur treu
geblieben! Hättet ihr auf eure Heraklit und Xenophanes und Sokrates
und Plato, und wie sie alle noch heissen, nicht gehört, sondern euren
göttlichen Dichtern vertraut! Wehe uns, die wir durch diesen zur
geheiligten Orthodoxie erhobenen Dämonenglauben Jahrhunderte hin-
durch unsäglichen Jammer gelitten haben, die wir durch ihn in unserer
gesamten geistigen Entwickelung gehindert wurden, und die wir noch
heute wähnen müssen, von thrakischen Bauern umringt zu leben!2)

Nicht eine Spur besser steht es mit jenem hellenischen Denken,
welches nicht mystische Wege wandelt, noch poetischen Eingebungen
folgt, sondern eingestandenermassen an Naturwissenschaft anknüpft
und es mit Hilfe der Physiologie und der rationellen Psychologie
unternimmt, den grossen Problemen des Daseins beizukommen. Da
schlägt der griechische Geist sofort in Scholasticismus um, wie schon
oben angedeutet. »Worte, Worte, nichts als Worte!« Hier
würden nähere Auseinandersetzungen leider über den Rahmen dieses
Buches hinausführen. Wer aber vor höherer Philosophie sich scheut,

1) Siehe z. B. im XXIV. Gesang der Ilias (Vers 300 fg.) die Erscheinung
des Gutes vorbedeutenden Adlers »rechts einher«. Äusserst bezeichnend sind im
selben Gesang die Worte des Priamos über ein ihm zu Teil gewordenes Gesicht
(Vers 220 fg.):
»Hätt’ es ein Anderer mir der Erdenbewohner geboten,
Etwa ein Zeichendeuter, ein Opferprophet und ein Priester,
Lug wohl nennten wir solches, und wendeten uns mit Verachtung.«
Prächtig ist ebenfalls bei Hesiod, wiewohl er dem Volksaberglauben viel näher
steht als Homer, die Auffassung der »Geister«: (Werke und Tage, 124 fg.)
»Und sie wahren das Recht und wehren frevelnden Werken:
Überall über die Erde hinwandelnd, in Nebel gehüllet,
Spenden sie Segen: dies ist das Königsamt, das sie erhielten.«
2) Döllinger nennt den »systematischen Dämonenglauben« eins der
»Danaer-Geschenke griechischen Wahnes« (Akad. Vorträge, I, 182).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 8
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[113/0136] Hellenische Kunst und Philosophie. der eigentliche Aberglaube spielt jedoch bei ihm eine sehr unter- geordnete Rolle und wird durch »göttliche« Deutung dem Bereiche des eigentlichen Dämonentums enthoben; sein Weg war sonniger, schöner als der des Indoariers; anstatt wie dieser in grübelnder Metaphysik sich zu ergehen, heiligte er die empirische Welt und führte dadurch den Menschen einer herrlichen Bestimmung entgegen. 1) Da kam der alte abergläubische, von pythischen Orakeln beratene, von Priesterinnen belehrte, von Dämonen besessene Sokrates, und nach ihm Plato und die anderen. O Hellenen! wäret ihr doch der Religion des Homer und der durch sie begründeten künstlerischen Kultur treu geblieben! Hättet ihr auf eure Heraklit und Xenophanes und Sokrates und Plato, und wie sie alle noch heissen, nicht gehört, sondern euren göttlichen Dichtern vertraut! Wehe uns, die wir durch diesen zur geheiligten Orthodoxie erhobenen Dämonenglauben Jahrhunderte hin- durch unsäglichen Jammer gelitten haben, die wir durch ihn in unserer gesamten geistigen Entwickelung gehindert wurden, und die wir noch heute wähnen müssen, von thrakischen Bauern umringt zu leben! 2) Nicht eine Spur besser steht es mit jenem hellenischen Denken, welches nicht mystische Wege wandelt, noch poetischen Eingebungen folgt, sondern eingestandenermassen an Naturwissenschaft anknüpft und es mit Hilfe der Physiologie und der rationellen Psychologie unternimmt, den grossen Problemen des Daseins beizukommen. Da schlägt der griechische Geist sofort in Scholasticismus um, wie schon oben angedeutet. »Worte, Worte, nichts als Worte!« Hier würden nähere Auseinandersetzungen leider über den Rahmen dieses Buches hinausführen. Wer aber vor höherer Philosophie sich scheut, 1) Siehe z. B. im XXIV. Gesang der Ilias (Vers 300 fg.) die Erscheinung des Gutes vorbedeutenden Adlers »rechts einher«. Äusserst bezeichnend sind im selben Gesang die Worte des Priamos über ein ihm zu Teil gewordenes Gesicht (Vers 220 fg.): »Hätt’ es ein Anderer mir der Erdenbewohner geboten, Etwa ein Zeichendeuter, ein Opferprophet und ein Priester, Lug wohl nennten wir solches, und wendeten uns mit Verachtung.« Prächtig ist ebenfalls bei Hesiod, wiewohl er dem Volksaberglauben viel näher steht als Homer, die Auffassung der »Geister«: (Werke und Tage, 124 fg.) »Und sie wahren das Recht und wehren frevelnden Werken: Überall über die Erde hinwandelnd, in Nebel gehüllet, Spenden sie Segen: dies ist das Königsamt, das sie erhielten.« 2) Döllinger nennt den »systematischen Dämonenglauben« eins der »Danaer-Geschenke griechischen Wahnes« (Akad. Vorträge, I, 182). Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 8

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/136>, abgerufen am 28.04.2024.