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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
voll; er wurde um so verhängnisvoller, als er dann seine unvergleich-
liche Gestaltungskraft (welche dem metaphysischen Inder so auffallend
fehlt) zur verführerisch klaren Gestaltung schattenhafter Trugbilder und
zur Verflachung und Verballhornung tiefer Einsichten und Ahnungen,
welche jeder Analyse unzugänglich sind, benützte. Nicht dass
er mystische Anlagen und ein ausgesprochenes metaphysisches Be-
dürfnis besass, mache ich ihm zum Vorwurf, wohl aber, dass er
Mystik anders als künstlerisch-mythisch zu gestalten suchte, und dass
er an dem Kernpunkt aller Metaphysik stets blind vorbeiging und die
Lösung transcendenter Fragen auf platt-empirischem Wege ver-
suchte. Hätte der Grieche auf der einen Seite rein poetisch, auf der
anderen rein empirisch seine Anlagen weiter entwickelt, dann wäre
er für die Menschheit ein ungeteilter, unsagbarer Segen geworden;
so aber wurde jener selbe Grieche, der in Poesie und Wissenschaft das
Beispiel der frei-schöpferischen Gestaltung und somit des eigentlichen
Menschwerdens gegeben hatte, später vielfach ein erstarrendes, hemmen-
des Element in der Entwickelung des Menschengeistes.

In welchem bedingten Sinne dies verstanden werden muss,Teleologie.
leuchtet nach allem Gesagten von selbst ein: gerade hellenisches
Denken (Plato) hat seit etwa einem Jahrhundert in mancher Beziehung
unserer Philosophie Anregung gewährt, und umgekehrt, kann nicht
geleugnet werden, dass griechische Kunst nicht allein fördernd, sondern
zugleich hemmend auf uns gewirkt hat, so dass höchste schöpferische
Gestaltung fast nur dort stattfand (Malerei, Musik), wo kein helle-
nisches Ideal unseren Künstlern hindernd im Wege stand. Nichts
auf der Welt ist einfach, alles ist unendlich bedingt; dem Schriftsteller
muss es genügen, wenn er anregt; vor Kühnheit darf er daher nicht
zurückschrecken. Wer Widersprüche in meiner Darstellung wittert,
der merke gütigst noch Folgendes: gerade unser falsches Verhältnis
zum hellenischen Denken, unsere Knechtschaft ihm gegenüber, hat
uns, bei aller lauten Bewunderung für griechische Kunst, doch in ein
durchaus schiefes Verhältnis zu ihr gebracht. Wir haben kein rechtes
Gefühl für ihre Schönheit; wir kleben an der Oberfläche, wir schwatzen
von "klassischem Ideal", und zugleich von "Götzendienst", wo es
manchmal viel richtiger wäre, von klassischem Frohndienst und zu
Götzen erhobenen Idealen zu reden; die Narrenkappe des Entwickelungs-
dogmas sitzt uns so fest auf dem Kopfe, dass wir ohne Weiteres
voraussetzen, was die alten Philosophen lehrten, müsse notwendiger-
weise viel richtiger und schöner sein, als was die noch älteren unge-

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Hellenische Kunst und Philosophie.
voll; er wurde um so verhängnisvoller, als er dann seine unvergleich-
liche Gestaltungskraft (welche dem metaphysischen Inder so auffallend
fehlt) zur verführerisch klaren Gestaltung schattenhafter Trugbilder und
zur Verflachung und Verballhornung tiefer Einsichten und Ahnungen,
welche jeder Analyse unzugänglich sind, benützte. Nicht dass
er mystische Anlagen und ein ausgesprochenes metaphysisches Be-
dürfnis besass, mache ich ihm zum Vorwurf, wohl aber, dass er
Mystik anders als künstlerisch-mythisch zu gestalten suchte, und dass
er an dem Kernpunkt aller Metaphysik stets blind vorbeiging und die
Lösung transcendenter Fragen auf platt-empirischem Wege ver-
suchte. Hätte der Grieche auf der einen Seite rein poetisch, auf der
anderen rein empirisch seine Anlagen weiter entwickelt, dann wäre
er für die Menschheit ein ungeteilter, unsagbarer Segen geworden;
so aber wurde jener selbe Grieche, der in Poesie und Wissenschaft das
Beispiel der frei-schöpferischen Gestaltung und somit des eigentlichen
Menschwerdens gegeben hatte, später vielfach ein erstarrendes, hemmen-
des Element in der Entwickelung des Menschengeistes.

In welchem bedingten Sinne dies verstanden werden muss,Teleologie.
leuchtet nach allem Gesagten von selbst ein: gerade hellenisches
Denken (Plato) hat seit etwa einem Jahrhundert in mancher Beziehung
unserer Philosophie Anregung gewährt, und umgekehrt, kann nicht
geleugnet werden, dass griechische Kunst nicht allein fördernd, sondern
zugleich hemmend auf uns gewirkt hat, so dass höchste schöpferische
Gestaltung fast nur dort stattfand (Malerei, Musik), wo kein helle-
nisches Ideal unseren Künstlern hindernd im Wege stand. Nichts
auf der Welt ist einfach, alles ist unendlich bedingt; dem Schriftsteller
muss es genügen, wenn er anregt; vor Kühnheit darf er daher nicht
zurückschrecken. Wer Widersprüche in meiner Darstellung wittert,
der merke gütigst noch Folgendes: gerade unser falsches Verhältnis
zum hellenischen Denken, unsere Knechtschaft ihm gegenüber, hat
uns, bei aller lauten Bewunderung für griechische Kunst, doch in ein
durchaus schiefes Verhältnis zu ihr gebracht. Wir haben kein rechtes
Gefühl für ihre Schönheit; wir kleben an der Oberfläche, wir schwatzen
von »klassischem Ideal«, und zugleich von »Götzendienst«, wo es
manchmal viel richtiger wäre, von klassischem Frohndienst und zu
Götzen erhobenen Idealen zu reden; die Narrenkappe des Entwickelungs-
dogmas sitzt uns so fest auf dem Kopfe, dass wir ohne Weiteres
voraussetzen, was die alten Philosophen lehrten, müsse notwendiger-
weise viel richtiger und schöner sein, als was die noch älteren unge-

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[115/0138] Hellenische Kunst und Philosophie. voll; er wurde um so verhängnisvoller, als er dann seine unvergleich- liche Gestaltungskraft (welche dem metaphysischen Inder so auffallend fehlt) zur verführerisch klaren Gestaltung schattenhafter Trugbilder und zur Verflachung und Verballhornung tiefer Einsichten und Ahnungen, welche jeder Analyse unzugänglich sind, benützte. Nicht dass er mystische Anlagen und ein ausgesprochenes metaphysisches Be- dürfnis besass, mache ich ihm zum Vorwurf, wohl aber, dass er Mystik anders als künstlerisch-mythisch zu gestalten suchte, und dass er an dem Kernpunkt aller Metaphysik stets blind vorbeiging und die Lösung transcendenter Fragen auf platt-empirischem Wege ver- suchte. Hätte der Grieche auf der einen Seite rein poetisch, auf der anderen rein empirisch seine Anlagen weiter entwickelt, dann wäre er für die Menschheit ein ungeteilter, unsagbarer Segen geworden; so aber wurde jener selbe Grieche, der in Poesie und Wissenschaft das Beispiel der frei-schöpferischen Gestaltung und somit des eigentlichen Menschwerdens gegeben hatte, später vielfach ein erstarrendes, hemmen- des Element in der Entwickelung des Menschengeistes. In welchem bedingten Sinne dies verstanden werden muss, leuchtet nach allem Gesagten von selbst ein: gerade hellenisches Denken (Plato) hat seit etwa einem Jahrhundert in mancher Beziehung unserer Philosophie Anregung gewährt, und umgekehrt, kann nicht geleugnet werden, dass griechische Kunst nicht allein fördernd, sondern zugleich hemmend auf uns gewirkt hat, so dass höchste schöpferische Gestaltung fast nur dort stattfand (Malerei, Musik), wo kein helle- nisches Ideal unseren Künstlern hindernd im Wege stand. Nichts auf der Welt ist einfach, alles ist unendlich bedingt; dem Schriftsteller muss es genügen, wenn er anregt; vor Kühnheit darf er daher nicht zurückschrecken. Wer Widersprüche in meiner Darstellung wittert, der merke gütigst noch Folgendes: gerade unser falsches Verhältnis zum hellenischen Denken, unsere Knechtschaft ihm gegenüber, hat uns, bei aller lauten Bewunderung für griechische Kunst, doch in ein durchaus schiefes Verhältnis zu ihr gebracht. Wir haben kein rechtes Gefühl für ihre Schönheit; wir kleben an der Oberfläche, wir schwatzen von »klassischem Ideal«, und zugleich von »Götzendienst«, wo es manchmal viel richtiger wäre, von klassischem Frohndienst und zu Götzen erhobenen Idealen zu reden; die Narrenkappe des Entwickelungs- dogmas sitzt uns so fest auf dem Kopfe, dass wir ohne Weiteres voraussetzen, was die alten Philosophen lehrten, müsse notwendiger- weise viel richtiger und schöner sein, als was die noch älteren unge- Teleologie. 8*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/138>, abgerufen am 28.04.2024.