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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
dem Reichtum zunahmen; nichtsdestoweniger hat er mit seiner Ver-
fassung die Axt an die Wurzel gelegt, aus der -- und wenn auch
noch so mühsam -- der atheniensische Staat erwachsen war.1) Ein
minder bedeutender Mann hätte es nicht gewagt, so tief umbildend
in den natürlichen Gang der Entwickelung einzugreifen, und das wäre
sehr wahrscheinlich ein Segen gewesen. -- Und können wir anders
über Julius Caesar urteilen? Von den berühmten Feldherren der
Weltgeschichte war er vielleicht als Politiker der bedeutendste; auf
den verschiedensten Gebieten (man denke nur an die Verbesserung
des Kalenders, an die Inangriffnahme eines allgemeinen Gesetzbuches,
an die Begründung der afrikanischen Kolonie) bekundete er einen
durchgreifenden Verstand; als organisatorisches Genie wäre er wohl,
bei gleich günstigen Umständen, nicht hinter Napoleon zurückgeblieben
-- dabei mit dem unermesslichen Vorzug, dass er nicht ein aus-
ländischer Condottiere, wie dieser oder wie Diocletian, sondern ein

1) Manchem wird die Verfassung Lykurg's noch willkürlicher dünken,
jedoch mit Unrecht. Denn Lykurg rüttelt gar nicht an den durch die historische
Entwickelung gegebenen Grundlagen, im Gegenteil, er befestigt sie: die Völker, die
nacheinander nach Lakedämon gezogen waren, schichteten sich übereinander,
das zuletzt angekommene zu oberst -- und so liess es Lykurg bestehen. Dass die
Pelasger (Heloten) das Land bebauten, die Achäer (Periöken) Handel und Gewerbe
trieben, die Dorier (Spartiaten) Krieg führten und folglich auch regierten, das war
keine künstliche Rollenverteilung, sondern die Feststellung eines thatsächlich vor-
handenen Verhältnisses. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben in Lakedämon
lange Zeiten hindurch glücklicher war, als in irgend einem anderen Teile Griechen-
lands: der Sklavenhandel war verboten, die Heloten waren Erbpächter und, wenn
auch nicht auf Rosen gebettet, so genossen sie doch eine weitgehende Unabhängig-
keit, die Periöken bewegten sich frei, sogar ihr beschränkter Militärdienst wurde
ihnen im Interesse ihrer in den einzelnen Familien erblichen Gewerbe häufig nach-
gesehen, für die Spartiaten endlich war das Prinzip des ganzen Lebens die Ge-
selligkeit und in den Sälen, wo sie zu ihren einfachen Mahlen zusammentraten,
prangte als Schutzgeist ein einziges Standbild, der Gott des Lachens (Plutarch:
Lykurg XXXVII). Was man Lykurg zum Vorwurf machen muss, ist erstens, dass
er diese gegebenen und insofern gesunden Verhältnisse für die Ewigkeit festzu-
bannen trachtete, hierdurch aber dem lebendigen Organismus die nötige Elastizität
raubte, zweitens, dass er auf dem widerstandsfähigen Untergrund ein in mancher
Beziehung gar phantastisches Gebäude aufführte; da tritt eben wieder der theore-
tisierende Politiker hervor, der Mann, der auf rationellem Wege festzustellen unter-
nimmt, wie die Dinge sein müssten, während in Wahrheit der logisierenden
Vernunft einzig eine registrierende, nicht eine schöpferische Funktion zukommt.
Dass Lykurg aber trotz alledem die historischen Thatsachen zum Ausgangspunkt
nahm, das war es, was seiner Verfassung unter allen griechischen die weitaus
grösste Kraft und Dauer sicherte.

Römisches Recht.
dem Reichtum zunahmen; nichtsdestoweniger hat er mit seiner Ver-
fassung die Axt an die Wurzel gelegt, aus der — und wenn auch
noch so mühsam — der atheniensische Staat erwachsen war.1) Ein
minder bedeutender Mann hätte es nicht gewagt, so tief umbildend
in den natürlichen Gang der Entwickelung einzugreifen, und das wäre
sehr wahrscheinlich ein Segen gewesen. — Und können wir anders
über Julius Caesar urteilen? Von den berühmten Feldherren der
Weltgeschichte war er vielleicht als Politiker der bedeutendste; auf
den verschiedensten Gebieten (man denke nur an die Verbesserung
des Kalenders, an die Inangriffnahme eines allgemeinen Gesetzbuches,
an die Begründung der afrikanischen Kolonie) bekundete er einen
durchgreifenden Verstand; als organisatorisches Genie wäre er wohl,
bei gleich günstigen Umständen, nicht hinter Napoleon zurückgeblieben
— dabei mit dem unermesslichen Vorzug, dass er nicht ein aus-
ländischer Condottiere, wie dieser oder wie Diocletian, sondern ein

1) Manchem wird die Verfassung Lykurg’s noch willkürlicher dünken,
jedoch mit Unrecht. Denn Lykurg rüttelt gar nicht an den durch die historische
Entwickelung gegebenen Grundlagen, im Gegenteil, er befestigt sie: die Völker, die
nacheinander nach Lakedämon gezogen waren, schichteten sich übereinander,
das zuletzt angekommene zu oberst — und so liess es Lykurg bestehen. Dass die
Pelasger (Heloten) das Land bebauten, die Achäer (Periöken) Handel und Gewerbe
trieben, die Dorier (Spartiaten) Krieg führten und folglich auch regierten, das war
keine künstliche Rollenverteilung, sondern die Feststellung eines thatsächlich vor-
handenen Verhältnisses. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben in Lakedämon
lange Zeiten hindurch glücklicher war, als in irgend einem anderen Teile Griechen-
lands: der Sklavenhandel war verboten, die Heloten waren Erbpächter und, wenn
auch nicht auf Rosen gebettet, so genossen sie doch eine weitgehende Unabhängig-
keit, die Periöken bewegten sich frei, sogar ihr beschränkter Militärdienst wurde
ihnen im Interesse ihrer in den einzelnen Familien erblichen Gewerbe häufig nach-
gesehen, für die Spartiaten endlich war das Prinzip des ganzen Lebens die Ge-
selligkeit und in den Sälen, wo sie zu ihren einfachen Mahlen zusammentraten,
prangte als Schutzgeist ein einziges Standbild, der Gott des Lachens (Plutarch:
Lykurg XXXVII). Was man Lykurg zum Vorwurf machen muss, ist erstens, dass
er diese gegebenen und insofern gesunden Verhältnisse für die Ewigkeit festzu-
bannen trachtete, hierdurch aber dem lebendigen Organismus die nötige Elastizität
raubte, zweitens, dass er auf dem widerstandsfähigen Untergrund ein in mancher
Beziehung gar phantastisches Gebäude aufführte; da tritt eben wieder der theore-
tisierende Politiker hervor, der Mann, der auf rationellem Wege festzustellen unter-
nimmt, wie die Dinge sein müssten, während in Wahrheit der logisierenden
Vernunft einzig eine registrierende, nicht eine schöpferische Funktion zukommt.
Dass Lykurg aber trotz alledem die historischen Thatsachen zum Ausgangspunkt
nahm, das war es, was seiner Verfassung unter allen griechischen die weitaus
grösste Kraft und Dauer sicherte.
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[125/0148] Römisches Recht. dem Reichtum zunahmen; nichtsdestoweniger hat er mit seiner Ver- fassung die Axt an die Wurzel gelegt, aus der — und wenn auch noch so mühsam — der atheniensische Staat erwachsen war. 1) Ein minder bedeutender Mann hätte es nicht gewagt, so tief umbildend in den natürlichen Gang der Entwickelung einzugreifen, und das wäre sehr wahrscheinlich ein Segen gewesen. — Und können wir anders über Julius Caesar urteilen? Von den berühmten Feldherren der Weltgeschichte war er vielleicht als Politiker der bedeutendste; auf den verschiedensten Gebieten (man denke nur an die Verbesserung des Kalenders, an die Inangriffnahme eines allgemeinen Gesetzbuches, an die Begründung der afrikanischen Kolonie) bekundete er einen durchgreifenden Verstand; als organisatorisches Genie wäre er wohl, bei gleich günstigen Umständen, nicht hinter Napoleon zurückgeblieben — dabei mit dem unermesslichen Vorzug, dass er nicht ein aus- ländischer Condottiere, wie dieser oder wie Diocletian, sondern ein 1) Manchem wird die Verfassung Lykurg’s noch willkürlicher dünken, jedoch mit Unrecht. Denn Lykurg rüttelt gar nicht an den durch die historische Entwickelung gegebenen Grundlagen, im Gegenteil, er befestigt sie: die Völker, die nacheinander nach Lakedämon gezogen waren, schichteten sich übereinander, das zuletzt angekommene zu oberst — und so liess es Lykurg bestehen. Dass die Pelasger (Heloten) das Land bebauten, die Achäer (Periöken) Handel und Gewerbe trieben, die Dorier (Spartiaten) Krieg führten und folglich auch regierten, das war keine künstliche Rollenverteilung, sondern die Feststellung eines thatsächlich vor- handenen Verhältnisses. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben in Lakedämon lange Zeiten hindurch glücklicher war, als in irgend einem anderen Teile Griechen- lands: der Sklavenhandel war verboten, die Heloten waren Erbpächter und, wenn auch nicht auf Rosen gebettet, so genossen sie doch eine weitgehende Unabhängig- keit, die Periöken bewegten sich frei, sogar ihr beschränkter Militärdienst wurde ihnen im Interesse ihrer in den einzelnen Familien erblichen Gewerbe häufig nach- gesehen, für die Spartiaten endlich war das Prinzip des ganzen Lebens die Ge- selligkeit und in den Sälen, wo sie zu ihren einfachen Mahlen zusammentraten, prangte als Schutzgeist ein einziges Standbild, der Gott des Lachens (Plutarch: Lykurg XXXVII). Was man Lykurg zum Vorwurf machen muss, ist erstens, dass er diese gegebenen und insofern gesunden Verhältnisse für die Ewigkeit festzu- bannen trachtete, hierdurch aber dem lebendigen Organismus die nötige Elastizität raubte, zweitens, dass er auf dem widerstandsfähigen Untergrund ein in mancher Beziehung gar phantastisches Gebäude aufführte; da tritt eben wieder der theore- tisierende Politiker hervor, der Mann, der auf rationellem Wege festzustellen unter- nimmt, wie die Dinge sein müssten, während in Wahrheit der logisierenden Vernunft einzig eine registrierende, nicht eine schöpferische Funktion zukommt. Dass Lykurg aber trotz alledem die historischen Thatsachen zum Ausgangspunkt nahm, das war es, was seiner Verfassung unter allen griechischen die weitaus grösste Kraft und Dauer sicherte.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/148>, abgerufen am 29.04.2024.