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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
kein ungewöhnlich reicher -- durch unzerreissbare Herzensbande ge-
kettet, und was sie in den Krieg treibt, was ihnen die unbezwingbare
Macht verleiht, das ist zunächst und vor allem die Liebe zur Heimat,
der verzweifelte Entschluss, den unabhängigen Besitz dieser Scholle
nur mit dem Leben aufzugeben. Dass dieses Prinzip zur allmählichen
Erweiterung des Staates führen musste, bezeugt nicht Eroberungslust,
sondern es war eine Zwangslage. Selbst heute ist die Macht der
wichtigste Faktor im internationalen Völkerrecht, und wir sahen, dass
in unserem Jahrhundert die friedfertigsten Nationen, wie Deutschland,
ihren Waffenstand unaufhörlich vergrössern mussten, doch einzig im
Interesse ihrer Unabhängigkeit. Wie viel schwieriger war die Lage
Roms, umringt von einem konfusen Durcheinander von Völkchen
und Völkern, -- in nächster Nähe die Menge der verwandten, ewig
sich bekämpfenden Stämme, im weiteren Kreise das unerforschte,
gewitterschwangere Chaos der Barbaren, der Asiaten und der Afrikaner!
Verteidigung genügte nicht; wollte Rom Ruhe geniessen, so musste
es das Friedenswerk der Organisation und Verwaltung von einem
Land zum andern ausdehnen. Wohin unter den Zeitgenossen Roms
jene kleinen Völker es brachten, die keinen politischen Blick be-
sassen, das sehen wir an der Geschichte aller hellenischen Staaten;
Rom dagegen besass diesen Blick wie nie ein Volk vor ihm oder
nach ihm. Seine Leiter handelten nicht nach theoretischen Einsichten,
wie wir beim Anblick einer so streng logischen Entwickelung heute
fast glauben möchten; vielmehr folgten sie einem fast unfehlbaren
Instinkte; dies ist aber auch der sicherste aller Kompasse, -- wohl
dem, der ihn besitzt! Nun hören wir viel von römischer Härte,
römischem Eigennutz, römischer Gier; ja! war es denn möglich,
inmitten einer solchen Welt für Unabhängigkeit und Freiheit zu
streiten, ohne hart zu sein? kann man im Kampf ums Leben seinen
Platz behaupten, ohne in erster Linie an sich selbst zu denken? ist
nicht Besitz Kraft? Was man aber wenig oder gar nicht beachtet,
ist, dass der beispiellose Erfolg der Römer nicht als ein Erfolg der
Härte, des Eigennutzes, der Gier aufgefasst werden kann -- diese
wüteten ringsherum in einem mindestens eben so hohen Grade wie
unter den Römern, auch heute ist es nicht viel anders geworden --,
nein, die Erfolge der Römer beruhen auf einer geistigen und sittlichen
Überlegenheit. Freilich eine einseitige Überlegenheit; was ist aber
auf dieser Welt nicht einseitig? Und es kann nicht geleugnet werden,
dass in gewissen Beziehungen die Römer tiefer empfunden und

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Römisches Recht.
kein ungewöhnlich reicher — durch unzerreissbare Herzensbande ge-
kettet, und was sie in den Krieg treibt, was ihnen die unbezwingbare
Macht verleiht, das ist zunächst und vor allem die Liebe zur Heimat,
der verzweifelte Entschluss, den unabhängigen Besitz dieser Scholle
nur mit dem Leben aufzugeben. Dass dieses Prinzip zur allmählichen
Erweiterung des Staates führen musste, bezeugt nicht Eroberungslust,
sondern es war eine Zwangslage. Selbst heute ist die Macht der
wichtigste Faktor im internationalen Völkerrecht, und wir sahen, dass
in unserem Jahrhundert die friedfertigsten Nationen, wie Deutschland,
ihren Waffenstand unaufhörlich vergrössern mussten, doch einzig im
Interesse ihrer Unabhängigkeit. Wie viel schwieriger war die Lage
Roms, umringt von einem konfusen Durcheinander von Völkchen
und Völkern, — in nächster Nähe die Menge der verwandten, ewig
sich bekämpfenden Stämme, im weiteren Kreise das unerforschte,
gewitterschwangere Chaos der Barbaren, der Asiaten und der Afrikaner!
Verteidigung genügte nicht; wollte Rom Ruhe geniessen, so musste
es das Friedenswerk der Organisation und Verwaltung von einem
Land zum andern ausdehnen. Wohin unter den Zeitgenossen Roms
jene kleinen Völker es brachten, die keinen politischen Blick be-
sassen, das sehen wir an der Geschichte aller hellenischen Staaten;
Rom dagegen besass diesen Blick wie nie ein Volk vor ihm oder
nach ihm. Seine Leiter handelten nicht nach theoretischen Einsichten,
wie wir beim Anblick einer so streng logischen Entwickelung heute
fast glauben möchten; vielmehr folgten sie einem fast unfehlbaren
Instinkte; dies ist aber auch der sicherste aller Kompasse, — wohl
dem, der ihn besitzt! Nun hören wir viel von römischer Härte,
römischem Eigennutz, römischer Gier; ja! war es denn möglich,
inmitten einer solchen Welt für Unabhängigkeit und Freiheit zu
streiten, ohne hart zu sein? kann man im Kampf ums Leben seinen
Platz behaupten, ohne in erster Linie an sich selbst zu denken? ist
nicht Besitz Kraft? Was man aber wenig oder gar nicht beachtet,
ist, dass der beispiellose Erfolg der Römer nicht als ein Erfolg der
Härte, des Eigennutzes, der Gier aufgefasst werden kann — diese
wüteten ringsherum in einem mindestens eben so hohen Grade wie
unter den Römern, auch heute ist es nicht viel anders geworden —,
nein, die Erfolge der Römer beruhen auf einer geistigen und sittlichen
Überlegenheit. Freilich eine einseitige Überlegenheit; was ist aber
auf dieser Welt nicht einseitig? Und es kann nicht geleugnet werden,
dass in gewissen Beziehungen die Römer tiefer empfunden und

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[131/0154] Römisches Recht. kein ungewöhnlich reicher — durch unzerreissbare Herzensbande ge- kettet, und was sie in den Krieg treibt, was ihnen die unbezwingbare Macht verleiht, das ist zunächst und vor allem die Liebe zur Heimat, der verzweifelte Entschluss, den unabhängigen Besitz dieser Scholle nur mit dem Leben aufzugeben. Dass dieses Prinzip zur allmählichen Erweiterung des Staates führen musste, bezeugt nicht Eroberungslust, sondern es war eine Zwangslage. Selbst heute ist die Macht der wichtigste Faktor im internationalen Völkerrecht, und wir sahen, dass in unserem Jahrhundert die friedfertigsten Nationen, wie Deutschland, ihren Waffenstand unaufhörlich vergrössern mussten, doch einzig im Interesse ihrer Unabhängigkeit. Wie viel schwieriger war die Lage Roms, umringt von einem konfusen Durcheinander von Völkchen und Völkern, — in nächster Nähe die Menge der verwandten, ewig sich bekämpfenden Stämme, im weiteren Kreise das unerforschte, gewitterschwangere Chaos der Barbaren, der Asiaten und der Afrikaner! Verteidigung genügte nicht; wollte Rom Ruhe geniessen, so musste es das Friedenswerk der Organisation und Verwaltung von einem Land zum andern ausdehnen. Wohin unter den Zeitgenossen Roms jene kleinen Völker es brachten, die keinen politischen Blick be- sassen, das sehen wir an der Geschichte aller hellenischen Staaten; Rom dagegen besass diesen Blick wie nie ein Volk vor ihm oder nach ihm. Seine Leiter handelten nicht nach theoretischen Einsichten, wie wir beim Anblick einer so streng logischen Entwickelung heute fast glauben möchten; vielmehr folgten sie einem fast unfehlbaren Instinkte; dies ist aber auch der sicherste aller Kompasse, — wohl dem, der ihn besitzt! Nun hören wir viel von römischer Härte, römischem Eigennutz, römischer Gier; ja! war es denn möglich, inmitten einer solchen Welt für Unabhängigkeit und Freiheit zu streiten, ohne hart zu sein? kann man im Kampf ums Leben seinen Platz behaupten, ohne in erster Linie an sich selbst zu denken? ist nicht Besitz Kraft? Was man aber wenig oder gar nicht beachtet, ist, dass der beispiellose Erfolg der Römer nicht als ein Erfolg der Härte, des Eigennutzes, der Gier aufgefasst werden kann — diese wüteten ringsherum in einem mindestens eben so hohen Grade wie unter den Römern, auch heute ist es nicht viel anders geworden —, nein, die Erfolge der Römer beruhen auf einer geistigen und sittlichen Überlegenheit. Freilich eine einseitige Überlegenheit; was ist aber auf dieser Welt nicht einseitig? Und es kann nicht geleugnet werden, dass in gewissen Beziehungen die Römer tiefer empfunden und 9*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/154>, abgerufen am 28.04.2024.