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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
Ordnung sich auflehnenden Juden mehr als den langmütigen Römern
zu verdanken haben), hätte das Christentum sich schwerlich jemals
vom Judentum losgerissen, sondern wäre zunächst eine Sekte unter
Sekten geblieben. Die Gewalt der religiösen Idee hätte aber gesiegt,
das kann gar nicht in Frage gezogen werden; die enorme und zu-
nehmende Ausbreitung der jüdischen Diaspora vor Christi Zeiten be-
zeugt es; wir hätten also ein durch christliche Anregung reformiertes,
weltbeherrschendes Judentum erhalten.1) Vielleicht wendet man ein:

1) Die Diaspora nennt man die erweiterte jüdische Gemeinde. Ursprünglich
verstand man darunter diejenigen Juden, die es vorgezogen hatten, aus der baby-
lonischen "Gefangenschaft" nicht heimzukehren, weil es ihnen dort viel besser
ging, als in ihrer Heimat. Bald war keine wohlhabende Stadt der Welt ohne
jüdische Gemeinde; nichts ist falscher als die verbreitete Vorstellung, erst die Zer-
störung Jerusalems habe die Juden über die Welt zerstreut. In Alexandrien und
Umgebung allein rechnete man unter den ersten römischen Kaisern eine Million
Juden, und schon Kaiser Tiberius erkannte diesen theokratischen Staat inmitten des
Rechtsstaates für eine grosse Gefahr. Die Diaspora machte eifrig und mit grossem
Erfolge Propaganda, wobei die Liberalität, mit der sie Männer als "Halbjuden" mit
Nachsicht der peinlichen Einweihungszeremonie aufnahmen, ihr sehr zu statten kam;
ausserdem sprachen noch materielle Vorteile mit, da die Juden ihre Religion be-
nutzt hatten, um vom Militärdienst und von einer Reihe anderer lästiger, bürger-
licher Pflichten sich freisprechen zu lassen; den grössten Erfolg hatten jedoch die
hebräischen Missionäre bei den Weibern. Bemerkenswert ist nun vor allem die
Thatsache, dass diese internationale Gemeinde, welche Hebräer und Nichthebräer
enthielt und in der alle Schattierungen des Glaubens vertreten waren, vom bigottesten
Pharisäertum bis zur offen höhnenden Irreligion, wie ein Mann zusammenhielt,
sobald es um die Privilegien und die Interessen der gemeinsamen Judenschaft ging:
der jüdische Freidenker hätte um nichts in der Welt es versäumt, seinen jährlichen
Beitrag für die Tempelopfer nach Jerusalem einzusenden; Philon, der berühmte
Neoplatoniker, der an Jahve ebensowenig glaubte wie an Jupiter, vertrat dennoch
die jüdische Gemeinde von Alexandrien in Rom, zu Gunsten der durch Caligula
bedrohten Synagogen; Poppaea Sabina, die Geliebte und später die Gemahlin
Nero's, keine Hebräerin, aber ein eifriges Mitglied der jüdischen Diaspora, unter-
stützte die Bitten von Nero's Liebling, dem jüdischen Schauspieler Alityrus, die
Sekte der Christen auszurotten, und wurde dadurch höchst wahrscheinlich die
moralische Urheberin jener grässlichen Verfolgung des Jahres 64, bei welcher an.
geblich auch die Apostel Peter und Paul ihr Ende fanden. Die Thatsache, dass
die Römer, die sonst zu jener Zeit Christen von orthodoxen Juden nicht zu trennen
wussten, sie bei dieser Gelegenheit ganz genau unterschieden, betrachtet Renan als
endgültige Bestätigung dieser Anklage, die schon im 1. Jahrhundert gegen die
Diaspora erhoben wurde (in Tertullian's Apologeticus, Kap. XXI z. B. etwas
verblümt, aber doch deutlich, siehe auch Renan: L'Antechrist, ch. VII). Neuere
zwingende Beweise, dass bis zu Domitian, also bis lange nach Nero's Tod, die
Römer die Christen als jüdische Sekte betrachteten, findet man in Neumann's:

Römisches Recht.
Ordnung sich auflehnenden Juden mehr als den langmütigen Römern
zu verdanken haben), hätte das Christentum sich schwerlich jemals
vom Judentum losgerissen, sondern wäre zunächst eine Sekte unter
Sekten geblieben. Die Gewalt der religiösen Idee hätte aber gesiegt,
das kann gar nicht in Frage gezogen werden; die enorme und zu-
nehmende Ausbreitung der jüdischen Diaspora vor Christi Zeiten be-
zeugt es; wir hätten also ein durch christliche Anregung reformiertes,
weltbeherrschendes Judentum erhalten.1) Vielleicht wendet man ein:

1) Die Diaspora nennt man die erweiterte jüdische Gemeinde. Ursprünglich
verstand man darunter diejenigen Juden, die es vorgezogen hatten, aus der baby-
lonischen »Gefangenschaft« nicht heimzukehren, weil es ihnen dort viel besser
ging, als in ihrer Heimat. Bald war keine wohlhabende Stadt der Welt ohne
jüdische Gemeinde; nichts ist falscher als die verbreitete Vorstellung, erst die Zer-
störung Jerusalems habe die Juden über die Welt zerstreut. In Alexandrien und
Umgebung allein rechnete man unter den ersten römischen Kaisern eine Million
Juden, und schon Kaiser Tiberius erkannte diesen theokratischen Staat inmitten des
Rechtsstaates für eine grosse Gefahr. Die Diaspora machte eifrig und mit grossem
Erfolge Propaganda, wobei die Liberalität, mit der sie Männer als »Halbjuden« mit
Nachsicht der peinlichen Einweihungszeremonie aufnahmen, ihr sehr zu statten kam;
ausserdem sprachen noch materielle Vorteile mit, da die Juden ihre Religion be-
nutzt hatten, um vom Militärdienst und von einer Reihe anderer lästiger, bürger-
licher Pflichten sich freisprechen zu lassen; den grössten Erfolg hatten jedoch die
hebräischen Missionäre bei den Weibern. Bemerkenswert ist nun vor allem die
Thatsache, dass diese internationale Gemeinde, welche Hebräer und Nichthebräer
enthielt und in der alle Schattierungen des Glaubens vertreten waren, vom bigottesten
Pharisäertum bis zur offen höhnenden Irreligion, wie ein Mann zusammenhielt,
sobald es um die Privilegien und die Interessen der gemeinsamen Judenschaft ging:
der jüdische Freidenker hätte um nichts in der Welt es versäumt, seinen jährlichen
Beitrag für die Tempelopfer nach Jerusalem einzusenden; Philon, der berühmte
Neoplatoniker, der an Jahve ebensowenig glaubte wie an Jupiter, vertrat dennoch
die jüdische Gemeinde von Alexandrien in Rom, zu Gunsten der durch Caligula
bedrohten Synagogen; Poppaea Sabina, die Geliebte und später die Gemahlin
Nero’s, keine Hebräerin, aber ein eifriges Mitglied der jüdischen Diaspora, unter-
stützte die Bitten von Nero’s Liebling, dem jüdischen Schauspieler Alityrus, die
Sekte der Christen auszurotten, und wurde dadurch höchst wahrscheinlich die
moralische Urheberin jener grässlichen Verfolgung des Jahres 64, bei welcher an.
geblich auch die Apostel Peter und Paul ihr Ende fanden. Die Thatsache, dass
die Römer, die sonst zu jener Zeit Christen von orthodoxen Juden nicht zu trennen
wussten, sie bei dieser Gelegenheit ganz genau unterschieden, betrachtet Renan als
endgültige Bestätigung dieser Anklage, die schon im 1. Jahrhundert gegen die
Diaspora erhoben wurde (in Tertullian’s Apologeticus, Kap. XXI z. B. etwas
verblümt, aber doch deutlich, siehe auch Renan: L’Antéchrist, ch. VII). Neuere
zwingende Beweise, dass bis zu Domitian, also bis lange nach Nero’s Tod, die
Römer die Christen als jüdische Sekte betrachteten, findet man in Neumann’s:
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[143/0166] Römisches Recht. Ordnung sich auflehnenden Juden mehr als den langmütigen Römern zu verdanken haben), hätte das Christentum sich schwerlich jemals vom Judentum losgerissen, sondern wäre zunächst eine Sekte unter Sekten geblieben. Die Gewalt der religiösen Idee hätte aber gesiegt, das kann gar nicht in Frage gezogen werden; die enorme und zu- nehmende Ausbreitung der jüdischen Diaspora vor Christi Zeiten be- zeugt es; wir hätten also ein durch christliche Anregung reformiertes, weltbeherrschendes Judentum erhalten. 1) Vielleicht wendet man ein: 1) Die Diaspora nennt man die erweiterte jüdische Gemeinde. Ursprünglich verstand man darunter diejenigen Juden, die es vorgezogen hatten, aus der baby- lonischen »Gefangenschaft« nicht heimzukehren, weil es ihnen dort viel besser ging, als in ihrer Heimat. Bald war keine wohlhabende Stadt der Welt ohne jüdische Gemeinde; nichts ist falscher als die verbreitete Vorstellung, erst die Zer- störung Jerusalems habe die Juden über die Welt zerstreut. In Alexandrien und Umgebung allein rechnete man unter den ersten römischen Kaisern eine Million Juden, und schon Kaiser Tiberius erkannte diesen theokratischen Staat inmitten des Rechtsstaates für eine grosse Gefahr. Die Diaspora machte eifrig und mit grossem Erfolge Propaganda, wobei die Liberalität, mit der sie Männer als »Halbjuden« mit Nachsicht der peinlichen Einweihungszeremonie aufnahmen, ihr sehr zu statten kam; ausserdem sprachen noch materielle Vorteile mit, da die Juden ihre Religion be- nutzt hatten, um vom Militärdienst und von einer Reihe anderer lästiger, bürger- licher Pflichten sich freisprechen zu lassen; den grössten Erfolg hatten jedoch die hebräischen Missionäre bei den Weibern. Bemerkenswert ist nun vor allem die Thatsache, dass diese internationale Gemeinde, welche Hebräer und Nichthebräer enthielt und in der alle Schattierungen des Glaubens vertreten waren, vom bigottesten Pharisäertum bis zur offen höhnenden Irreligion, wie ein Mann zusammenhielt, sobald es um die Privilegien und die Interessen der gemeinsamen Judenschaft ging: der jüdische Freidenker hätte um nichts in der Welt es versäumt, seinen jährlichen Beitrag für die Tempelopfer nach Jerusalem einzusenden; Philon, der berühmte Neoplatoniker, der an Jahve ebensowenig glaubte wie an Jupiter, vertrat dennoch die jüdische Gemeinde von Alexandrien in Rom, zu Gunsten der durch Caligula bedrohten Synagogen; Poppaea Sabina, die Geliebte und später die Gemahlin Nero’s, keine Hebräerin, aber ein eifriges Mitglied der jüdischen Diaspora, unter- stützte die Bitten von Nero’s Liebling, dem jüdischen Schauspieler Alityrus, die Sekte der Christen auszurotten, und wurde dadurch höchst wahrscheinlich die moralische Urheberin jener grässlichen Verfolgung des Jahres 64, bei welcher an. geblich auch die Apostel Peter und Paul ihr Ende fanden. Die Thatsache, dass die Römer, die sonst zu jener Zeit Christen von orthodoxen Juden nicht zu trennen wussten, sie bei dieser Gelegenheit ganz genau unterschieden, betrachtet Renan als endgültige Bestätigung dieser Anklage, die schon im 1. Jahrhundert gegen die Diaspora erhoben wurde (in Tertullian’s Apologeticus, Kap. XXI z. B. etwas verblümt, aber doch deutlich, siehe auch Renan: L’Antéchrist, ch. VII). Neuere zwingende Beweise, dass bis zu Domitian, also bis lange nach Nero’s Tod, die Römer die Christen als jüdische Sekte betrachteten, findet man in Neumann’s:

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/166>, abgerufen am 28.04.2024.