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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
diese Zeit einen grossen Einfluss; wo immer in edler Absicht an die
Idee eines römischen Reiches später angeknüpft wurde, geschah es
fortan unter dem Eindruck und in Nachahmung von Trajan, Hadrian,
Antoninus Pius und Marc Aurel. Und doch liegt eine eigentümliche
Seelenlosigkeit in dieser ganzen Periode. Es waltet hier die Herr-
schaft des Verstandes, das Herz schweigt; der leidenschaftslose Mechanis-
mus greift bis in die Seele hinein, die nicht aus Liebe, sondern aus
Vernunft das Rechte thut: Marc Aurel's "Selbstgespräche" sind das
Spiegelbild dieser Geistesverfassung, Faustina's, seiner Gemahlin, sinn-
liche Verirrungen die unausbleibliche Reaktion. Die Wurzel Roms,
die leidenschaftliche Liebe der Familie, des Heims, war ausgerottet;
nicht einmal das berühmte Gesetz gegen die Junggesellen, mit Prämien
für Kindererzeugung (Lex Julia et Papia Poppaea), hatte die Ehe
wieder beliebt machen können. Wo das Herz nicht gebietet, ist nichts
von Bestand. Und nun ergriffen andere Ausländer die Gewalt, diesmal
freilich leidenschaftsvolle, aber ohne Verstand, afrikanische Mestizen,
Soldatenkaiser, die in dem römischen Staatsgedanken vor allem eine
riesige Weltkaserne erblickten und nicht begriffen, warum gerade Rom
das permanente Hauptquartier sein sollte. Gleich der zweite von ihnen,
Caracalla, verlieh das römische Bürgerrecht an sämtliche Einwohner
des Reiches: hierdurch hörte Rom auf, Rom zu sein. Genau tausend
Jahre lang hatten die Bürger Roms (denen nach und nach auch die
der übrigen Städte Italiens und anderer besonders verdienter Städte
gleichgestellt worden waren) gewisse Vorrechte genossen, sie hatten
sie aber durch die Last der Verantwortlichkeit, sowie durch rastlose,
unvergleichlich erfolgreiche, harte Arbeit verdient; von nun an war
Rom überall, das heisst nirgends. Wo der Kaiser sich gerade befand,
da war der Mittelpunkt des römischen Reiches. Diocletian verlegte
denn auch seine Residenz nach Sirmium, Konstantin nach Byzanz,
und selbst als ein getrenntes "weströmisches Reich" später entstand,
war die Hauptstadt Ravenna oder Mailand, Paris, Aachen, Wien, nie
mehr Rom. Die Verleihung des Bürgerrechtes an alle hatte noch
eine zweite Folge: es gab nun überhaupt gar keine Bürger mehr.
Man hat Caracalla, die mörderische, pseudo-punische Bestie, für seine
That früher gepriesen, es kommt sogar heute noch vor (siehe Leopold
von Ranke, Weltgeschichte II, 195); in Wahrheit hatte er, indem er
den letzten Faden der historischen Tradition, mit anderen Worten
der geschichtlichen Wahrheit zerschnitt, auch die letzte Spur jener
Freiheit vertilgt, deren unbändige, aufopferungsvolle, durch und durch

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Römisches Recht.
diese Zeit einen grossen Einfluss; wo immer in edler Absicht an die
Idee eines römischen Reiches später angeknüpft wurde, geschah es
fortan unter dem Eindruck und in Nachahmung von Trajan, Hadrian,
Antoninus Pius und Marc Aurel. Und doch liegt eine eigentümliche
Seelenlosigkeit in dieser ganzen Periode. Es waltet hier die Herr-
schaft des Verstandes, das Herz schweigt; der leidenschaftslose Mechanis-
mus greift bis in die Seele hinein, die nicht aus Liebe, sondern aus
Vernunft das Rechte thut: Marc Aurel’s »Selbstgespräche« sind das
Spiegelbild dieser Geistesverfassung, Faustina’s, seiner Gemahlin, sinn-
liche Verirrungen die unausbleibliche Reaktion. Die Wurzel Roms,
die leidenschaftliche Liebe der Familie, des Heims, war ausgerottet;
nicht einmal das berühmte Gesetz gegen die Junggesellen, mit Prämien
für Kindererzeugung (Lex Julia et Papia Poppaea), hatte die Ehe
wieder beliebt machen können. Wo das Herz nicht gebietet, ist nichts
von Bestand. Und nun ergriffen andere Ausländer die Gewalt, diesmal
freilich leidenschaftsvolle, aber ohne Verstand, afrikanische Mestizen,
Soldatenkaiser, die in dem römischen Staatsgedanken vor allem eine
riesige Weltkaserne erblickten und nicht begriffen, warum gerade Rom
das permanente Hauptquartier sein sollte. Gleich der zweite von ihnen,
Caracalla, verlieh das römische Bürgerrecht an sämtliche Einwohner
des Reiches: hierdurch hörte Rom auf, Rom zu sein. Genau tausend
Jahre lang hatten die Bürger Roms (denen nach und nach auch die
der übrigen Städte Italiens und anderer besonders verdienter Städte
gleichgestellt worden waren) gewisse Vorrechte genossen, sie hatten
sie aber durch die Last der Verantwortlichkeit, sowie durch rastlose,
unvergleichlich erfolgreiche, harte Arbeit verdient; von nun an war
Rom überall, das heisst nirgends. Wo der Kaiser sich gerade befand,
da war der Mittelpunkt des römischen Reiches. Diocletian verlegte
denn auch seine Residenz nach Sirmium, Konstantin nach Byzanz,
und selbst als ein getrenntes »weströmisches Reich« später entstand,
war die Hauptstadt Ravenna oder Mailand, Paris, Aachen, Wien, nie
mehr Rom. Die Verleihung des Bürgerrechtes an alle hatte noch
eine zweite Folge: es gab nun überhaupt gar keine Bürger mehr.
Man hat Caracalla, die mörderische, pseudo-punische Bestie, für seine
That früher gepriesen, es kommt sogar heute noch vor (siehe Leopold
von Ranke, Weltgeschichte II, 195); in Wahrheit hatte er, indem er
den letzten Faden der historischen Tradition, mit anderen Worten
der geschichtlichen Wahrheit zerschnitt, auch die letzte Spur jener
Freiheit vertilgt, deren unbändige, aufopferungsvolle, durch und durch

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[147/0170] Römisches Recht. diese Zeit einen grossen Einfluss; wo immer in edler Absicht an die Idee eines römischen Reiches später angeknüpft wurde, geschah es fortan unter dem Eindruck und in Nachahmung von Trajan, Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel. Und doch liegt eine eigentümliche Seelenlosigkeit in dieser ganzen Periode. Es waltet hier die Herr- schaft des Verstandes, das Herz schweigt; der leidenschaftslose Mechanis- mus greift bis in die Seele hinein, die nicht aus Liebe, sondern aus Vernunft das Rechte thut: Marc Aurel’s »Selbstgespräche« sind das Spiegelbild dieser Geistesverfassung, Faustina’s, seiner Gemahlin, sinn- liche Verirrungen die unausbleibliche Reaktion. Die Wurzel Roms, die leidenschaftliche Liebe der Familie, des Heims, war ausgerottet; nicht einmal das berühmte Gesetz gegen die Junggesellen, mit Prämien für Kindererzeugung (Lex Julia et Papia Poppaea), hatte die Ehe wieder beliebt machen können. Wo das Herz nicht gebietet, ist nichts von Bestand. Und nun ergriffen andere Ausländer die Gewalt, diesmal freilich leidenschaftsvolle, aber ohne Verstand, afrikanische Mestizen, Soldatenkaiser, die in dem römischen Staatsgedanken vor allem eine riesige Weltkaserne erblickten und nicht begriffen, warum gerade Rom das permanente Hauptquartier sein sollte. Gleich der zweite von ihnen, Caracalla, verlieh das römische Bürgerrecht an sämtliche Einwohner des Reiches: hierdurch hörte Rom auf, Rom zu sein. Genau tausend Jahre lang hatten die Bürger Roms (denen nach und nach auch die der übrigen Städte Italiens und anderer besonders verdienter Städte gleichgestellt worden waren) gewisse Vorrechte genossen, sie hatten sie aber durch die Last der Verantwortlichkeit, sowie durch rastlose, unvergleichlich erfolgreiche, harte Arbeit verdient; von nun an war Rom überall, das heisst nirgends. Wo der Kaiser sich gerade befand, da war der Mittelpunkt des römischen Reiches. Diocletian verlegte denn auch seine Residenz nach Sirmium, Konstantin nach Byzanz, und selbst als ein getrenntes »weströmisches Reich« später entstand, war die Hauptstadt Ravenna oder Mailand, Paris, Aachen, Wien, nie mehr Rom. Die Verleihung des Bürgerrechtes an alle hatte noch eine zweite Folge: es gab nun überhaupt gar keine Bürger mehr. Man hat Caracalla, die mörderische, pseudo-punische Bestie, für seine That früher gepriesen, es kommt sogar heute noch vor (siehe Leopold von Ranke, Weltgeschichte II, 195); in Wahrheit hatte er, indem er den letzten Faden der historischen Tradition, mit anderen Worten der geschichtlichen Wahrheit zerschnitt, auch die letzte Spur jener Freiheit vertilgt, deren unbändige, aufopferungsvolle, durch und durch 10*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/170>, abgerufen am 27.04.2024.