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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Da das Werk, dessen erster Band hier vorliegt, nicht aus aneinander-Plan
des Werkes.

gereihten Bruchstücken bestehen soll, sondern gleich anfangs als
eine organische Einheit concipiert und in allen seinen Teilen ausführlich
entworfen wurde, muss es die vorzüglichste Aufgabe dieser allgemeinen
Einleitung sein, Aufschluss über den Plan des vollständigen Werkes
zu geben. Zwar bildet dieser erste Band ein abgeschlossenes Ganzes,
doch wäre dieses Ganze nicht das, was es ist, wenn es nicht als Teil
eines besonderen grösseren Gedankens entstanden wäre. Dieser Ge-
danke muss also "dem Teil, der anfangs alles ist", vorausgeschickt
werden.

Welche Beschränkungen dem Einzelnen auferlegt werden, wenn
er einer unübersehbaren Welt von Thatsachen allein entgegentritt,
das bedarf nicht erst ausführlicher Erörterung. Wissenschaftlich lässt sich
die Bewältigung einer derartigen Aufgabe gar nicht versuchen; einzig
künstlerische Gestaltung vermag hier (im glücklichen Falle), getragen
von jenen geheimen Parallelismen zwischen dem Geschauten und dem
Gedachten, von jenem Gewebe, welches -- äthergleich -- die Welt
nach jeder Richtung allverbindend durchzieht, ein Ganzes hervorzu-
bringen, und zwar, trotzdem nur einiges Wenige, nur Bruchstücke ver-
wendet werden. Gelingt dies dem Künstler, so war sein Werk nicht
überflüssig; denn ein Unübersehbares ist nunmehr übersichtlich ge-
worden, ein Ungestaltetes hat Gestalt gewonnen. Für diesen Zweck
ist nun der Vereinzelte gegenüber einer Vereinigung selbst tüchtiger
Männer insofern im Vorteil, als nur der Einzelne einheitlich formen
kann. Diesen seinen einzigen Vorteil muss er zu benutzen wissen. --
Kunst kann nur als Ganzes, Abgeschlossenes in die Erscheinung treten;
Wissenschaft dagegen ist notwendigerweise Bruchstück. Kunst vereint,
Wissenschaft trennt. Kunst gestaltet, Wissenschaft zergliedert Ge-
stalten. Der Mann der Wissenschaft steht gewissermassen auf einem
archimedischen Punkte ausserhalb der Welt: das ist seine Grösse,
seine sogenannte "Objektivität"; das bildet aber auch seine offenbare

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Da das Werk, dessen erster Band hier vorliegt, nicht aus aneinander-Plan
des Werkes.

gereihten Bruchstücken bestehen soll, sondern gleich anfangs als
eine organische Einheit concipiert und in allen seinen Teilen ausführlich
entworfen wurde, muss es die vorzüglichste Aufgabe dieser allgemeinen
Einleitung sein, Aufschluss über den Plan des vollständigen Werkes
zu geben. Zwar bildet dieser erste Band ein abgeschlossenes Ganzes,
doch wäre dieses Ganze nicht das, was es ist, wenn es nicht als Teil
eines besonderen grösseren Gedankens entstanden wäre. Dieser Ge-
danke muss also »dem Teil, der anfangs alles ist«, vorausgeschickt
werden.

Welche Beschränkungen dem Einzelnen auferlegt werden, wenn
er einer unübersehbaren Welt von Thatsachen allein entgegentritt,
das bedarf nicht erst ausführlicher Erörterung. Wissenschaftlich lässt sich
die Bewältigung einer derartigen Aufgabe gar nicht versuchen; einzig
künstlerische Gestaltung vermag hier (im glücklichen Falle), getragen
von jenen geheimen Parallelismen zwischen dem Geschauten und dem
Gedachten, von jenem Gewebe, welches — äthergleich — die Welt
nach jeder Richtung allverbindend durchzieht, ein Ganzes hervorzu-
bringen, und zwar, trotzdem nur einiges Wenige, nur Bruchstücke ver-
wendet werden. Gelingt dies dem Künstler, so war sein Werk nicht
überflüssig; denn ein Unübersehbares ist nunmehr übersichtlich ge-
worden, ein Ungestaltetes hat Gestalt gewonnen. Für diesen Zweck
ist nun der Vereinzelte gegenüber einer Vereinigung selbst tüchtiger
Männer insofern im Vorteil, als nur der Einzelne einheitlich formen
kann. Diesen seinen einzigen Vorteil muss er zu benutzen wissen. —
Kunst kann nur als Ganzes, Abgeschlossenes in die Erscheinung treten;
Wissenschaft dagegen ist notwendigerweise Bruchstück. Kunst vereint,
Wissenschaft trennt. Kunst gestaltet, Wissenschaft zergliedert Ge-
stalten. Der Mann der Wissenschaft steht gewissermassen auf einem
archimedischen Punkte ausserhalb der Welt: das ist seine Grösse,
seine sogenannte »Objektivität«; das bildet aber auch seine offenbare

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[[3]/0026] Da das Werk, dessen erster Band hier vorliegt, nicht aus aneinander- gereihten Bruchstücken bestehen soll, sondern gleich anfangs als eine organische Einheit concipiert und in allen seinen Teilen ausführlich entworfen wurde, muss es die vorzüglichste Aufgabe dieser allgemeinen Einleitung sein, Aufschluss über den Plan des vollständigen Werkes zu geben. Zwar bildet dieser erste Band ein abgeschlossenes Ganzes, doch wäre dieses Ganze nicht das, was es ist, wenn es nicht als Teil eines besonderen grösseren Gedankens entstanden wäre. Dieser Ge- danke muss also »dem Teil, der anfangs alles ist«, vorausgeschickt werden. Plan des Werkes. Welche Beschränkungen dem Einzelnen auferlegt werden, wenn er einer unübersehbaren Welt von Thatsachen allein entgegentritt, das bedarf nicht erst ausführlicher Erörterung. Wissenschaftlich lässt sich die Bewältigung einer derartigen Aufgabe gar nicht versuchen; einzig künstlerische Gestaltung vermag hier (im glücklichen Falle), getragen von jenen geheimen Parallelismen zwischen dem Geschauten und dem Gedachten, von jenem Gewebe, welches — äthergleich — die Welt nach jeder Richtung allverbindend durchzieht, ein Ganzes hervorzu- bringen, und zwar, trotzdem nur einiges Wenige, nur Bruchstücke ver- wendet werden. Gelingt dies dem Künstler, so war sein Werk nicht überflüssig; denn ein Unübersehbares ist nunmehr übersichtlich ge- worden, ein Ungestaltetes hat Gestalt gewonnen. Für diesen Zweck ist nun der Vereinzelte gegenüber einer Vereinigung selbst tüchtiger Männer insofern im Vorteil, als nur der Einzelne einheitlich formen kann. Diesen seinen einzigen Vorteil muss er zu benutzen wissen. — Kunst kann nur als Ganzes, Abgeschlossenes in die Erscheinung treten; Wissenschaft dagegen ist notwendigerweise Bruchstück. Kunst vereint, Wissenschaft trennt. Kunst gestaltet, Wissenschaft zergliedert Ge- stalten. Der Mann der Wissenschaft steht gewissermassen auf einem archimedischen Punkte ausserhalb der Welt: das ist seine Grösse, seine sogenannte »Objektivität«; das bildet aber auch seine offenbare 1*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/26>, abgerufen am 26.04.2024.