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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
nicht die selbe Lebenskraft besässe, hätte sie nicht an die realste, mate-
riellste, ja, wir dürfen ruhig sagen, am meisten materialistische der
Welt angeknüpft. Hierdurch, und nicht in Folge seiner angeblich
höheren Religiosität, ist das Judentum eine Weltmacht geworden.

Noch deutlicher wird die Sache, sobald man den Einfluss dieses
geschichtlichen Glaubens auf das Schicksal Christi betrachtet.

Die gewaltigste Persönlichkeit kann nur dann wirken, wenn sie
verstanden wird. Mag dieses Verständnis noch so lückenhaft, mag
es sogar häufig direktes Missverständnis sein, irgend eine Gemeinsam-
keit des Fühlens und Denkens muss als Verbindungsmittel dienen
zwischen dem vereinzelten Grossen und der Menge. Die Tausende,
die der Bergpredigt lauschten, verstanden Christum ganz gewiss
nicht, wie wäre das denn möglich gewesen? es war ein armes, von
ewigem Krieg und Aufruhr schwer bedrücktes, von seinen Priestern
systematisch verdummtes Volk; die Macht seines Wortes erweckte aber
in den Herzen der Begabteren unter ihnen einen Ton, der sonst an
keinem Ort der Erde erklungen wäre: sollte Dieser der Messias sein, der
verheissene Erlöser aus unserem Jammer und Elend? Welche uner-
messliche Kraft lag nicht in der Möglichkeit einer solchen Vorstellung!
Sofort war die flüchtige, unscheinbare Gegenwart mit der fernsten
Vergangenheit und mit der unzweifelbarsten Zukunft verknüpft, wo-
durch der jetzige Augenblick unvergängliche Bedeutung erhielt. Dass
der Messias, den die Juden erwarteten, durchaus nicht den Charakter
hatte, noch haben konnte, den wir diesem Begriff beilegen, ist neben-
sächlich;1) der Gedanke war da, der geschichtlich motivierte Glaube,

1) Selbst ein so orthodox kirchlicher Forscher wie Stanton giebt zu, dass
der jüdische Messiasgedanke ein durchaus politischer war (siehe The Jewish and
the Christian Messiah,
1886 S. 122 fg., 128 fg., u. s. w.). Man weiss, dass die Theologie
sich in letzter Zeit viel mit der Geschichte der Messiasvorstellungen beschäftigt hat.
Das Facit für uns Laien ist hauptsächlich der Nachweis, dass die Christen, durch
specifisch galiläische und samaritanische Irrlehren dazu verleitet, der Erwartung eines
Messias eine Auffassung untergeschoben haben, die sie in Wahrheit für die Juden nie
besass. Über die gewaltsamen Deutungen der alten Propheten waren die jüdischen
Schriftgelehrten von jeher empört; jetzt wird aber auch von christlicher Seite zuge-
geben, dass mindestens die vorexilischen Propheten (und das sind die grössten)
von der Erwartung eines Messias nichts wussten (siehe z. B. Paul Volz: Die
vorexilische Jahveprophetie und der Messias
1897, als letzte Zusammenfassung); das
Alte Testament kennt nicht einmal das Wort, und einer der bedeutenden Theo-
logen unserer Zeit, Paul de Lagarde (Deutsche Schriften, S. 53), macht darauf auf-
merksam, dass der Ausdruck mascheiach überhaupt kein ursprünglich hebräischer,
sondern ein erst spät aus Assyrien oder Babylonien erborgter ist. Besonders auf-

Das Erbe der alten Welt.
nicht die selbe Lebenskraft besässe, hätte sie nicht an die realste, mate-
riellste, ja, wir dürfen ruhig sagen, am meisten materialistische der
Welt angeknüpft. Hierdurch, und nicht in Folge seiner angeblich
höheren Religiosität, ist das Judentum eine Weltmacht geworden.

Noch deutlicher wird die Sache, sobald man den Einfluss dieses
geschichtlichen Glaubens auf das Schicksal Christi betrachtet.

Die gewaltigste Persönlichkeit kann nur dann wirken, wenn sie
verstanden wird. Mag dieses Verständnis noch so lückenhaft, mag
es sogar häufig direktes Missverständnis sein, irgend eine Gemeinsam-
keit des Fühlens und Denkens muss als Verbindungsmittel dienen
zwischen dem vereinzelten Grossen und der Menge. Die Tausende,
die der Bergpredigt lauschten, verstanden Christum ganz gewiss
nicht, wie wäre das denn möglich gewesen? es war ein armes, von
ewigem Krieg und Aufruhr schwer bedrücktes, von seinen Priestern
systematisch verdummtes Volk; die Macht seines Wortes erweckte aber
in den Herzen der Begabteren unter ihnen einen Ton, der sonst an
keinem Ort der Erde erklungen wäre: sollte Dieser der Messias sein, der
verheissene Erlöser aus unserem Jammer und Elend? Welche uner-
messliche Kraft lag nicht in der Möglichkeit einer solchen Vorstellung!
Sofort war die flüchtige, unscheinbare Gegenwart mit der fernsten
Vergangenheit und mit der unzweifelbarsten Zukunft verknüpft, wo-
durch der jetzige Augenblick unvergängliche Bedeutung erhielt. Dass
der Messias, den die Juden erwarteten, durchaus nicht den Charakter
hatte, noch haben konnte, den wir diesem Begriff beilegen, ist neben-
sächlich;1) der Gedanke war da, der geschichtlich motivierte Glaube,

1) Selbst ein so orthodox kirchlicher Forscher wie Stanton giebt zu, dass
der jüdische Messiasgedanke ein durchaus politischer war (siehe The Jewish and
the Christian Messiah,
1886 S. 122 fg., 128 fg., u. s. w.). Man weiss, dass die Theologie
sich in letzter Zeit viel mit der Geschichte der Messiasvorstellungen beschäftigt hat.
Das Facit für uns Laien ist hauptsächlich der Nachweis, dass die Christen, durch
specifisch galiläische und samaritanische Irrlehren dazu verleitet, der Erwartung eines
Messias eine Auffassung untergeschoben haben, die sie in Wahrheit für die Juden nie
besass. Über die gewaltsamen Deutungen der alten Propheten waren die jüdischen
Schriftgelehrten von jeher empört; jetzt wird aber auch von christlicher Seite zuge-
geben, dass mindestens die vorexilischen Propheten (und das sind die grössten)
von der Erwartung eines Messias nichts wussten (siehe z. B. Paul Volz: Die
vorexilische Jahveprophetie und der Messias
1897, als letzte Zusammenfassung); das
Alte Testament kennt nicht einmal das Wort, und einer der bedeutenden Theo-
logen unserer Zeit, Paul de Lagarde (Deutsche Schriften, S. 53), macht darauf auf-
merksam, dass der Ausdruck mâschîach überhaupt kein ursprünglich hebräischer,
sondern ein erst spät aus Assyrien oder Babylonien erborgter ist. Besonders auf-
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[238/0261] Das Erbe der alten Welt. nicht die selbe Lebenskraft besässe, hätte sie nicht an die realste, mate- riellste, ja, wir dürfen ruhig sagen, am meisten materialistische der Welt angeknüpft. Hierdurch, und nicht in Folge seiner angeblich höheren Religiosität, ist das Judentum eine Weltmacht geworden. Noch deutlicher wird die Sache, sobald man den Einfluss dieses geschichtlichen Glaubens auf das Schicksal Christi betrachtet. Die gewaltigste Persönlichkeit kann nur dann wirken, wenn sie verstanden wird. Mag dieses Verständnis noch so lückenhaft, mag es sogar häufig direktes Missverständnis sein, irgend eine Gemeinsam- keit des Fühlens und Denkens muss als Verbindungsmittel dienen zwischen dem vereinzelten Grossen und der Menge. Die Tausende, die der Bergpredigt lauschten, verstanden Christum ganz gewiss nicht, wie wäre das denn möglich gewesen? es war ein armes, von ewigem Krieg und Aufruhr schwer bedrücktes, von seinen Priestern systematisch verdummtes Volk; die Macht seines Wortes erweckte aber in den Herzen der Begabteren unter ihnen einen Ton, der sonst an keinem Ort der Erde erklungen wäre: sollte Dieser der Messias sein, der verheissene Erlöser aus unserem Jammer und Elend? Welche uner- messliche Kraft lag nicht in der Möglichkeit einer solchen Vorstellung! Sofort war die flüchtige, unscheinbare Gegenwart mit der fernsten Vergangenheit und mit der unzweifelbarsten Zukunft verknüpft, wo- durch der jetzige Augenblick unvergängliche Bedeutung erhielt. Dass der Messias, den die Juden erwarteten, durchaus nicht den Charakter hatte, noch haben konnte, den wir diesem Begriff beilegen, ist neben- sächlich; 1) der Gedanke war da, der geschichtlich motivierte Glaube, 1) Selbst ein so orthodox kirchlicher Forscher wie Stanton giebt zu, dass der jüdische Messiasgedanke ein durchaus politischer war (siehe The Jewish and the Christian Messiah, 1886 S. 122 fg., 128 fg., u. s. w.). Man weiss, dass die Theologie sich in letzter Zeit viel mit der Geschichte der Messiasvorstellungen beschäftigt hat. Das Facit für uns Laien ist hauptsächlich der Nachweis, dass die Christen, durch specifisch galiläische und samaritanische Irrlehren dazu verleitet, der Erwartung eines Messias eine Auffassung untergeschoben haben, die sie in Wahrheit für die Juden nie besass. Über die gewaltsamen Deutungen der alten Propheten waren die jüdischen Schriftgelehrten von jeher empört; jetzt wird aber auch von christlicher Seite zuge- geben, dass mindestens die vorexilischen Propheten (und das sind die grössten) von der Erwartung eines Messias nichts wussten (siehe z. B. Paul Volz: Die vorexilische Jahveprophetie und der Messias 1897, als letzte Zusammenfassung); das Alte Testament kennt nicht einmal das Wort, und einer der bedeutenden Theo- logen unserer Zeit, Paul de Lagarde (Deutsche Schriften, S. 53), macht darauf auf- merksam, dass der Ausdruck mâschîach überhaupt kein ursprünglich hebräischer, sondern ein erst spät aus Assyrien oder Babylonien erborgter ist. Besonders auf-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/261>, abgerufen am 13.05.2024.