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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
für Troja, andere für die Achaier; indem ich einen Teil der Gottheit
mir befreunde, befremde ich mir den andren; das Leben ist ein Kampf,
ein Spiel, der Edelste kann zu Grunde gehen, der Jämmerlichste siegen;
die Sittlichkeit ist gewissermassen eine persönliche Angelegenheit, seines
eigensten Innern ist der Mensch Herr, nicht seines Schicksals; eine
sorgende, strafende und belohnende Vorsehung giebt es nicht. Sind
doch auch die Götter nicht frei; Zeus selber muss dem Geschicke sich
beugen. "Dem bestimmten Verhängnis zu entgehen, ist selbst einem
Gotte nicht möglich", schreibt Herodot. Ein Volk, welches die Ilias
erzeugt, wird später grosse Naturforscher und grosse Denker hervor-
bringen. Denn wer die Natur mit offenen, durch keine Selbstsucht
verblendeten Augen ansieht, wird überall in ihr das Walten des Ge-
setzes
entdecken; die Gesetzlichkeit auf moralischem Gebiete heisst
Schicksal für den Künstler und Prädestination für den Philosophen. Für
den treuen Beobachter der Natur ist der Gedanke an Willkür zunächst
einfach unfassbar; selbst einem Gotte kann er sich nicht entschliessen,
anzudichten, er thue, was er wolle, sondern was er müsse. Schönen
Ausdruck verleiht dieser Weltauffassung Here in Goethe's Achilleis-
Fragment:

Willkür bleibet ewig verhasst den Göttern und Menschen,
Wenn sie in Thaten sich zeigt, auch nur in Worten sich kundgiebt.
Denn so hoch wir auch stehen, so ist der ewigen Götter
Ewigste Themis1) allein, und diese muss dauern und walten.

Dagegen kann der jüdische Jahve als die Inkarnation der Willkür
bezeichnet werden. Gewiss tritt uns dieser Gottesbegriff in den Psalmen
und in Jesaia überaus grossartig entgegen; er ist auch -- für sein
auserwähltes Volk -- eine Quelle hoher und ernster Moral. Was
Jahve ist, ist er aber, weil er so sein will; er steht über aller Natur,
über jedem Gesetz, der absolute, unbeschränkte Autokrat. Gefällt es
ihm, ein kleines Völkchen aus der Menschheit herauszuwählen und
ihm allein seine Gnade zu erweisen, so thut er es; will er es quälen,
so schickt er es in Sklaverei; will er dagegen ihm Häuser schenken,

1) Die Themis ist bei uns Modernen zu einer Allegorie der unparteiischen
Gerichtspflege herabgesunken, d. h. also eines durchaus willkürlichen Überein-
kommens, und wird, bezeichnender Weise, mit verbundenen Augen dargestellt;
als die Mythologie noch lebte, bezeichnete sie das Walten des Gesetzes in der
gesamten Natur, und die antiken Bildner geben ihr besonders grosse, weit offene
Augen!

Das Erbe der alten Welt.
für Troja, andere für die Achaier; indem ich einen Teil der Gottheit
mir befreunde, befremde ich mir den andren; das Leben ist ein Kampf,
ein Spiel, der Edelste kann zu Grunde gehen, der Jämmerlichste siegen;
die Sittlichkeit ist gewissermassen eine persönliche Angelegenheit, seines
eigensten Innern ist der Mensch Herr, nicht seines Schicksals; eine
sorgende, strafende und belohnende Vorsehung giebt es nicht. Sind
doch auch die Götter nicht frei; Zeus selber muss dem Geschicke sich
beugen. »Dem bestimmten Verhängnis zu entgehen, ist selbst einem
Gotte nicht möglich«, schreibt Herodot. Ein Volk, welches die Ilias
erzeugt, wird später grosse Naturforscher und grosse Denker hervor-
bringen. Denn wer die Natur mit offenen, durch keine Selbstsucht
verblendeten Augen ansieht, wird überall in ihr das Walten des Ge-
setzes
entdecken; die Gesetzlichkeit auf moralischem Gebiete heisst
Schicksal für den Künstler und Prädestination für den Philosophen. Für
den treuen Beobachter der Natur ist der Gedanke an Willkür zunächst
einfach unfassbar; selbst einem Gotte kann er sich nicht entschliessen,
anzudichten, er thue, was er wolle, sondern was er müsse. Schönen
Ausdruck verleiht dieser Weltauffassung Here in Goethe’s Achillëis-
Fragment:

Willkür bleibet ewig verhasst den Göttern und Menschen,
Wenn sie in Thaten sich zeigt, auch nur in Worten sich kundgiebt.
Denn so hoch wir auch stehen, so ist der ewigen Götter
Ewigste Themis1) allein, und diese muss dauern und walten.

Dagegen kann der jüdische Jahve als die Inkarnation der Willkür
bezeichnet werden. Gewiss tritt uns dieser Gottesbegriff in den Psalmen
und in Jesaia überaus grossartig entgegen; er ist auch — für sein
auserwähltes Volk — eine Quelle hoher und ernster Moral. Was
Jahve ist, ist er aber, weil er so sein will; er steht über aller Natur,
über jedem Gesetz, der absolute, unbeschränkte Autokrat. Gefällt es
ihm, ein kleines Völkchen aus der Menschheit herauszuwählen und
ihm allein seine Gnade zu erweisen, so thut er es; will er es quälen,
so schickt er es in Sklaverei; will er dagegen ihm Häuser schenken,

1) Die Themis ist bei uns Modernen zu einer Allegorie der unparteiischen
Gerichtspflege herabgesunken, d. h. also eines durchaus willkürlichen Überein-
kommens, und wird, bezeichnender Weise, mit verbundenen Augen dargestellt;
als die Mythologie noch lebte, bezeichnete sie das Walten des Gesetzes in der
gesamten Natur, und die antiken Bildner geben ihr besonders grosse, weit offene
Augen!
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[242/0265] Das Erbe der alten Welt. für Troja, andere für die Achaier; indem ich einen Teil der Gottheit mir befreunde, befremde ich mir den andren; das Leben ist ein Kampf, ein Spiel, der Edelste kann zu Grunde gehen, der Jämmerlichste siegen; die Sittlichkeit ist gewissermassen eine persönliche Angelegenheit, seines eigensten Innern ist der Mensch Herr, nicht seines Schicksals; eine sorgende, strafende und belohnende Vorsehung giebt es nicht. Sind doch auch die Götter nicht frei; Zeus selber muss dem Geschicke sich beugen. »Dem bestimmten Verhängnis zu entgehen, ist selbst einem Gotte nicht möglich«, schreibt Herodot. Ein Volk, welches die Ilias erzeugt, wird später grosse Naturforscher und grosse Denker hervor- bringen. Denn wer die Natur mit offenen, durch keine Selbstsucht verblendeten Augen ansieht, wird überall in ihr das Walten des Ge- setzes entdecken; die Gesetzlichkeit auf moralischem Gebiete heisst Schicksal für den Künstler und Prädestination für den Philosophen. Für den treuen Beobachter der Natur ist der Gedanke an Willkür zunächst einfach unfassbar; selbst einem Gotte kann er sich nicht entschliessen, anzudichten, er thue, was er wolle, sondern was er müsse. Schönen Ausdruck verleiht dieser Weltauffassung Here in Goethe’s Achillëis- Fragment: Willkür bleibet ewig verhasst den Göttern und Menschen, Wenn sie in Thaten sich zeigt, auch nur in Worten sich kundgiebt. Denn so hoch wir auch stehen, so ist der ewigen Götter Ewigste Themis 1) allein, und diese muss dauern und walten. Dagegen kann der jüdische Jahve als die Inkarnation der Willkür bezeichnet werden. Gewiss tritt uns dieser Gottesbegriff in den Psalmen und in Jesaia überaus grossartig entgegen; er ist auch — für sein auserwähltes Volk — eine Quelle hoher und ernster Moral. Was Jahve ist, ist er aber, weil er so sein will; er steht über aller Natur, über jedem Gesetz, der absolute, unbeschränkte Autokrat. Gefällt es ihm, ein kleines Völkchen aus der Menschheit herauszuwählen und ihm allein seine Gnade zu erweisen, so thut er es; will er es quälen, so schickt er es in Sklaverei; will er dagegen ihm Häuser schenken, 1) Die Themis ist bei uns Modernen zu einer Allegorie der unparteiischen Gerichtspflege herabgesunken, d. h. also eines durchaus willkürlichen Überein- kommens, und wird, bezeichnender Weise, mit verbundenen Augen dargestellt; als die Mythologie noch lebte, bezeichnete sie das Walten des Gesetzes in der gesamten Natur, und die antiken Bildner geben ihr besonders grosse, weit offene Augen!

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/265>, abgerufen am 13.05.2024.