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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
versperrt. In der Natur beobachtet er überall Gesetzmässigkeit, und
von sich selbst weiss er, dass er nur dann sein Höchstes leisten kann,
wenn er der inneren Not gehorcht. Freilich kann auch bei ihm der
Wille Heldenthaten vollbringen, nur aber wenn seine Erkenntnis irgend
eine Idee erfasst hat -- eine künstlerische, religiöse, philosophische,
oder auch auf Eroberung, Beherrschung, Bereicherung, vielleicht auf
Verbrechen hinzielende, gleichviel, bei ihm gehorcht der Wille, er
befiehlt nicht. Darum ist auch der Indoeuropäer bei mässiger Be-
gabung so eigentümlich charakterlos im Vergleich zum unbegabtesten
Juden. Aus eigenen Kräften wären wir gewiss nie zu der Vorstellung
eines freien allmächtigen Gottes und einer sozusagen "willkürlichen
Vorsehung" gekommen, einer Vorsehung nämlich, die eine Sache so
bestimmen kann, und dann, durch Gebete oder andere Beweggründe
veranlasst, wieder anders.1) Wir sehen nicht, dass man ausserhalb
des Judentums auf den Gedanken einer ganz intimen und beständigen
persönlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch gekommen sei,
auf den Gedanken eines Gottes, der, wenn ich so sagen darf, lediglich
der Menschen wegen da zu sein scheint. Zwar sind die alten indo-
arischen Götter wohlwollende, freundliche, fast gutmütig zu nennende
Mächte; der Mensch ist ihr Kind, nicht ihr Knecht; ohne Furcht
naht er sich ihnen; beim Opfern "ergreift er des Gottes rechte Hand";2)
der Mangel an Demut der Gottheit gegenüber hat sogar Manchen
entsetzt; doch findet man, wie gesagt, nirgendwo die Vorstellung der
willkürlichen Allmacht; und damit hängt eine auffallende Untreue
zusammen: man betet bald Diesen, bald Jenen an, oder, wird das
Göttliche als ein einheitliches Prinzip aufgefasst, so denkt es sich die
eine Schule so, die andere anders (ich erinnere an die sechs grossen
philosophisch-religiösen Systeme Indiens, die alle sechs als orthodox
galten); das Gehirn arbeitet eben unaufhaltsam weiter, neue Bilder,
neue Gestalten erzeugend, das Unbegrenzte ist seine Heimat, die Freiheit
sein Element, die Schöpferkraft seine Freude. Man betrachte doch
folgenden Anfang eines Hymnus aus dem Rigveda (6, 9):

1) Nie sind bei Indoeuropäern die Götter "Weltschöpfer"; wo das Göttliche
als Schöpfer aufgefasst wird, wie beim Brahman der Inder, so bezieht sich das
auf eine rein metaphysische Erkenntnis, nicht auf einen historisch-mechanischen
Vorgang, wie in Genesis I; sonst entstehen die Götter "diesseits der Schöpfung",
man redet von ihrer Geburt und von ihrem Tode.
2) Oldenberg: Die Religion des Veda, S. 310.

Die Erscheinung Christi.
versperrt. In der Natur beobachtet er überall Gesetzmässigkeit, und
von sich selbst weiss er, dass er nur dann sein Höchstes leisten kann,
wenn er der inneren Not gehorcht. Freilich kann auch bei ihm der
Wille Heldenthaten vollbringen, nur aber wenn seine Erkenntnis irgend
eine Idee erfasst hat — eine künstlerische, religiöse, philosophische,
oder auch auf Eroberung, Beherrschung, Bereicherung, vielleicht auf
Verbrechen hinzielende, gleichviel, bei ihm gehorcht der Wille, er
befiehlt nicht. Darum ist auch der Indoeuropäer bei mässiger Be-
gabung so eigentümlich charakterlos im Vergleich zum unbegabtesten
Juden. Aus eigenen Kräften wären wir gewiss nie zu der Vorstellung
eines freien allmächtigen Gottes und einer sozusagen »willkürlichen
Vorsehung« gekommen, einer Vorsehung nämlich, die eine Sache so
bestimmen kann, und dann, durch Gebete oder andere Beweggründe
veranlasst, wieder anders.1) Wir sehen nicht, dass man ausserhalb
des Judentums auf den Gedanken einer ganz intimen und beständigen
persönlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch gekommen sei,
auf den Gedanken eines Gottes, der, wenn ich so sagen darf, lediglich
der Menschen wegen da zu sein scheint. Zwar sind die alten indo-
arischen Götter wohlwollende, freundliche, fast gutmütig zu nennende
Mächte; der Mensch ist ihr Kind, nicht ihr Knecht; ohne Furcht
naht er sich ihnen; beim Opfern »ergreift er des Gottes rechte Hand«;2)
der Mangel an Demut der Gottheit gegenüber hat sogar Manchen
entsetzt; doch findet man, wie gesagt, nirgendwo die Vorstellung der
willkürlichen Allmacht; und damit hängt eine auffallende Untreue
zusammen: man betet bald Diesen, bald Jenen an, oder, wird das
Göttliche als ein einheitliches Prinzip aufgefasst, so denkt es sich die
eine Schule so, die andere anders (ich erinnere an die sechs grossen
philosophisch-religiösen Systeme Indiens, die alle sechs als orthodox
galten); das Gehirn arbeitet eben unaufhaltsam weiter, neue Bilder,
neue Gestalten erzeugend, das Unbegrenzte ist seine Heimat, die Freiheit
sein Element, die Schöpferkraft seine Freude. Man betrachte doch
folgenden Anfang eines Hymnus aus dem Rigveda (6, 9):

1) Nie sind bei Indoeuropäern die Götter »Weltschöpfer«; wo das Göttliche
als Schöpfer aufgefasst wird, wie beim Brahman der Inder, so bezieht sich das
auf eine rein metaphysische Erkenntnis, nicht auf einen historisch-mechanischen
Vorgang, wie in Genesis I; sonst entstehen die Götter »diesseits der Schöpfung«,
man redet von ihrer Geburt und von ihrem Tode.
2) Oldenberg: Die Religion des Veda, S. 310.
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[245/0268] Die Erscheinung Christi. versperrt. In der Natur beobachtet er überall Gesetzmässigkeit, und von sich selbst weiss er, dass er nur dann sein Höchstes leisten kann, wenn er der inneren Not gehorcht. Freilich kann auch bei ihm der Wille Heldenthaten vollbringen, nur aber wenn seine Erkenntnis irgend eine Idee erfasst hat — eine künstlerische, religiöse, philosophische, oder auch auf Eroberung, Beherrschung, Bereicherung, vielleicht auf Verbrechen hinzielende, gleichviel, bei ihm gehorcht der Wille, er befiehlt nicht. Darum ist auch der Indoeuropäer bei mässiger Be- gabung so eigentümlich charakterlos im Vergleich zum unbegabtesten Juden. Aus eigenen Kräften wären wir gewiss nie zu der Vorstellung eines freien allmächtigen Gottes und einer sozusagen »willkürlichen Vorsehung« gekommen, einer Vorsehung nämlich, die eine Sache so bestimmen kann, und dann, durch Gebete oder andere Beweggründe veranlasst, wieder anders. 1) Wir sehen nicht, dass man ausserhalb des Judentums auf den Gedanken einer ganz intimen und beständigen persönlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch gekommen sei, auf den Gedanken eines Gottes, der, wenn ich so sagen darf, lediglich der Menschen wegen da zu sein scheint. Zwar sind die alten indo- arischen Götter wohlwollende, freundliche, fast gutmütig zu nennende Mächte; der Mensch ist ihr Kind, nicht ihr Knecht; ohne Furcht naht er sich ihnen; beim Opfern »ergreift er des Gottes rechte Hand«; 2) der Mangel an Demut der Gottheit gegenüber hat sogar Manchen entsetzt; doch findet man, wie gesagt, nirgendwo die Vorstellung der willkürlichen Allmacht; und damit hängt eine auffallende Untreue zusammen: man betet bald Diesen, bald Jenen an, oder, wird das Göttliche als ein einheitliches Prinzip aufgefasst, so denkt es sich die eine Schule so, die andere anders (ich erinnere an die sechs grossen philosophisch-religiösen Systeme Indiens, die alle sechs als orthodox galten); das Gehirn arbeitet eben unaufhaltsam weiter, neue Bilder, neue Gestalten erzeugend, das Unbegrenzte ist seine Heimat, die Freiheit sein Element, die Schöpferkraft seine Freude. Man betrachte doch folgenden Anfang eines Hymnus aus dem Rigveda (6, 9): 1) Nie sind bei Indoeuropäern die Götter »Weltschöpfer«; wo das Göttliche als Schöpfer aufgefasst wird, wie beim Brahman der Inder, so bezieht sich das auf eine rein metaphysische Erkenntnis, nicht auf einen historisch-mechanischen Vorgang, wie in Genesis I; sonst entstehen die Götter »diesseits der Schöpfung«, man redet von ihrer Geburt und von ihrem Tode. 2) Oldenberg: Die Religion des Veda, S. 310.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/268>, abgerufen am 13.05.2024.