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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.

Und noch Eins darf in diesem Zusammenhang nicht übergangenProphetismus.
werden: die einseitige Vorherrschaft des Willens macht die Chroniken
des jüdischen Volkes im Allgemeinen öde und hässlich; in dieser
Atmosphäre erwuchs jedoch eine Reihe bedeutender Männer, deren
originelle Grösse sie jedem Vergleich mit anderen Geistesheroen ent-
zieht. Ich habe dieser "Verneiner" des jüdischen Wesens, die dabei
selber so jüdisch von der Sohle bis zum Haupte blieben, dass sie mehr
als alles andere zur Ausbildung des starrsten Hebraismus beitrugen,
schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt gedacht1) und komme
im zweitnächsten Kapitel auf sie zurück; nur so viel muss hier ge-
sagt werden: indem diese Männer den religiösen Materialismus von
seiner abstraktesten Seite erfassten, erhoben sie ihn in moralischer Be-
ziehung auf eine sehr hohe Stufe; ihr Wirken hat der Auffassung
Christi in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in
wesentlichen Punkten historisch vorgearbeitet. Ausserdem spricht sich
bei ihnen ein wichtiger Zug am deutlichsten aus, der ganz und gar
im Wesen des Judentums begründet liegt: die historische Religion
dieses Volkes legt den Nachdruck nicht auf den Einzelnen, sondern
auf die ganze Nation; der Einzelne kann der Gesamtheit nützen oder
schaden, sonst aber ist er unwichtig; daraus folgte mit Notwendigkeit
ein ausgesprochen sozialistischer Zug, der in den Propheten oft
gewaltigen Ausdruck findet. Der Einzelne, der zu Glück und Reich-
tum gelangt, während seine Brüder darben, ist von Gott verflucht.
Wenn nun Christus in einer Beziehung das genau entgegengesetzte
Prinzip vertritt, dasjenige nämlich des extremen Individualismus, der
Erlösung des Einzelnen durch Wiedergeburt, so deutet andrerseits sein
Leben und sein Lehren unverkennbar auf einen Zustand, der nur
durch die Gemeinsamkeit verwirklicht werden kann. Der Kommunis-
mus des "Eine Herde und Ein Hirt" ist gewiss ein andrer als der
ganz und gar politisch gefärbte, theokratische Kommunismus der
Propheten; wiederum ist jedoch der Untergrund ein ausschliesslich
und charakteristisch jüdischer.

Mag man nun über diese verschiedenen jüdischen VorstellungenChristus
ein Jude.

denken wie man will, Grösse wird ihnen Niemand absprechen, noch
die Fähigkeit auf die Gestaltung des menschlichen Lebens eine fast
unermessliche Wirkung auszuüben. Es wird auch Niemand leugnen,
dass der Glaube an die göttliche Allmacht, an die göttliche Vorsehung,

1) S. 47.
Die Erscheinung Christi.

Und noch Eins darf in diesem Zusammenhang nicht übergangenProphetismus.
werden: die einseitige Vorherrschaft des Willens macht die Chroniken
des jüdischen Volkes im Allgemeinen öde und hässlich; in dieser
Atmosphäre erwuchs jedoch eine Reihe bedeutender Männer, deren
originelle Grösse sie jedem Vergleich mit anderen Geistesheroen ent-
zieht. Ich habe dieser »Verneiner« des jüdischen Wesens, die dabei
selber so jüdisch von der Sohle bis zum Haupte blieben, dass sie mehr
als alles andere zur Ausbildung des starrsten Hebraismus beitrugen,
schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt gedacht1) und komme
im zweitnächsten Kapitel auf sie zurück; nur so viel muss hier ge-
sagt werden: indem diese Männer den religiösen Materialismus von
seiner abstraktesten Seite erfassten, erhoben sie ihn in moralischer Be-
ziehung auf eine sehr hohe Stufe; ihr Wirken hat der Auffassung
Christi in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in
wesentlichen Punkten historisch vorgearbeitet. Ausserdem spricht sich
bei ihnen ein wichtiger Zug am deutlichsten aus, der ganz und gar
im Wesen des Judentums begründet liegt: die historische Religion
dieses Volkes legt den Nachdruck nicht auf den Einzelnen, sondern
auf die ganze Nation; der Einzelne kann der Gesamtheit nützen oder
schaden, sonst aber ist er unwichtig; daraus folgte mit Notwendigkeit
ein ausgesprochen sozialistischer Zug, der in den Propheten oft
gewaltigen Ausdruck findet. Der Einzelne, der zu Glück und Reich-
tum gelangt, während seine Brüder darben, ist von Gott verflucht.
Wenn nun Christus in einer Beziehung das genau entgegengesetzte
Prinzip vertritt, dasjenige nämlich des extremen Individualismus, der
Erlösung des Einzelnen durch Wiedergeburt, so deutet andrerseits sein
Leben und sein Lehren unverkennbar auf einen Zustand, der nur
durch die Gemeinsamkeit verwirklicht werden kann. Der Kommunis-
mus des »Eine Herde und Ein Hirt« ist gewiss ein andrer als der
ganz und gar politisch gefärbte, theokratische Kommunismus der
Propheten; wiederum ist jedoch der Untergrund ein ausschliesslich
und charakteristisch jüdischer.

Mag man nun über diese verschiedenen jüdischen VorstellungenChristus
ein Jude.

denken wie man will, Grösse wird ihnen Niemand absprechen, noch
die Fähigkeit auf die Gestaltung des menschlichen Lebens eine fast
unermessliche Wirkung auszuüben. Es wird auch Niemand leugnen,
dass der Glaube an die göttliche Allmacht, an die göttliche Vorsehung,

1) S. 47.
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[247/0270] Die Erscheinung Christi. Und noch Eins darf in diesem Zusammenhang nicht übergangen werden: die einseitige Vorherrschaft des Willens macht die Chroniken des jüdischen Volkes im Allgemeinen öde und hässlich; in dieser Atmosphäre erwuchs jedoch eine Reihe bedeutender Männer, deren originelle Grösse sie jedem Vergleich mit anderen Geistesheroen ent- zieht. Ich habe dieser »Verneiner« des jüdischen Wesens, die dabei selber so jüdisch von der Sohle bis zum Haupte blieben, dass sie mehr als alles andere zur Ausbildung des starrsten Hebraismus beitrugen, schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt gedacht 1) und komme im zweitnächsten Kapitel auf sie zurück; nur so viel muss hier ge- sagt werden: indem diese Männer den religiösen Materialismus von seiner abstraktesten Seite erfassten, erhoben sie ihn in moralischer Be- ziehung auf eine sehr hohe Stufe; ihr Wirken hat der Auffassung Christi in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in wesentlichen Punkten historisch vorgearbeitet. Ausserdem spricht sich bei ihnen ein wichtiger Zug am deutlichsten aus, der ganz und gar im Wesen des Judentums begründet liegt: die historische Religion dieses Volkes legt den Nachdruck nicht auf den Einzelnen, sondern auf die ganze Nation; der Einzelne kann der Gesamtheit nützen oder schaden, sonst aber ist er unwichtig; daraus folgte mit Notwendigkeit ein ausgesprochen sozialistischer Zug, der in den Propheten oft gewaltigen Ausdruck findet. Der Einzelne, der zu Glück und Reich- tum gelangt, während seine Brüder darben, ist von Gott verflucht. Wenn nun Christus in einer Beziehung das genau entgegengesetzte Prinzip vertritt, dasjenige nämlich des extremen Individualismus, der Erlösung des Einzelnen durch Wiedergeburt, so deutet andrerseits sein Leben und sein Lehren unverkennbar auf einen Zustand, der nur durch die Gemeinsamkeit verwirklicht werden kann. Der Kommunis- mus des »Eine Herde und Ein Hirt« ist gewiss ein andrer als der ganz und gar politisch gefärbte, theokratische Kommunismus der Propheten; wiederum ist jedoch der Untergrund ein ausschliesslich und charakteristisch jüdischer. Prophetismus. Mag man nun über diese verschiedenen jüdischen Vorstellungen denken wie man will, Grösse wird ihnen Niemand absprechen, noch die Fähigkeit auf die Gestaltung des menschlichen Lebens eine fast unermessliche Wirkung auszuüben. Es wird auch Niemand leugnen, dass der Glaube an die göttliche Allmacht, an die göttliche Vorsehung, Christus ein Jude. 1) S. 47.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/270>, abgerufen am 13.05.2024.