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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
ein Teil davon herauswächst? was soll mir das Auge, wenn die
strahlenden Gestalten, die es erschaute, sich nicht weiterspiegeln in
einer dahinter liegenden dunklen, fast amorphen Gehirnmasse? Er-
scheinungen erhalten erst dadurch Bedeutung, dass sie mit anderen
Erscheinungen in Verbindung stehen. Je reicher das Blut unsichtbar
in den Adern kreist, umso üppiger werden die Blüten des Lebens
hervorsprossen. Die Behauptung, Homer habe Griechenland geschaffen,
spricht zwar buchstäbliche Wahrheit aus, bleibt aber einseitig und irre-
leitend, solange nicht hinzugefügt wird: nur ein unvergleichliches Volk,
nur eine ganz bestimmte, geadelte Rasse konnte diesen Mann hervor-
bringen, nur eine Rasse, bei der das sehende und gestaltende Auge
in überschwänglichster Weise zur Ausbildung gelangt war.1) Ohne
Homer wäre Griechenland nicht Griechenland geworden, ohne Hellenen
wäre Homer nie geboren. Die Rasse, die den grossen Seher der
Gestalten gebar, gebar auch den erfindungsreichen Seher der Figuren,
Euklid, den luchsäugigen Ordner der Begriffe, Aristoteles, den Mann,
der das System des Kosmos zuerst durchschaute, Aristarchos u. s. w.
ad infinitum. Die Natur ist nicht so einfach, wie die Schulweisheit
es sich träumt: ist grosse Persönlichkeit unser "höchstes Glück", so
ist doch gemeinschaftliche Grösse der einzige Boden, auf dem sie er-
wachsen kann. Die ganze Rasse z. B. ist es, welche die Sprache
schafft, damit zugleich bestimmte künstlerische, philosophische, religiöse,
ja sogar praktische Möglichkeiten, aber auch unübersteigliche Schranken.
Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil
der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer
Gedanken absolut unmöglich macht; aus demselben Grunde konnte
kein semitisches Volk eine Mythologie im gleichen Sinne wie die
Inder und die Germanen besitzen. Man sieht, welche bestimmte Wege
auch die grössten Männer durch die gemeinsamen Leistungen der
ganzen Rasse gewiesen werden.2) Die Sprache ist es aber nicht allein.
Homer musste die Mythen vorfinden, um sie gestalten zu können;

1) Wer von der ungeheueren Kraft dieser Geschlechter, fähig einem Homer
als Grundlage zu dienen, sich eine lebendige Vorstellung machen will, der lese
die Beschreibungen der Burgen von Tiryns und Mykenä, aus atridischer Zeit, wie
sie heute noch, nach Jahrtausenden, dastehen.
2) Nach Renan (Israel, I, 102) vermag die hebräische Sprache: weder einen
philosophischen Gedanken, noch eine mythologische Vorstellung, noch das Gefühl
des Unendlichen, noch die Regungen des menschlichen Innern, noch die reine
Naturbetrachtung überhaupt zum Ausdruck zu bringen.

Das Völkerchaos.
ein Teil davon herauswächst? was soll mir das Auge, wenn die
strahlenden Gestalten, die es erschaute, sich nicht weiterspiegeln in
einer dahinter liegenden dunklen, fast amorphen Gehirnmasse? Er-
scheinungen erhalten erst dadurch Bedeutung, dass sie mit anderen
Erscheinungen in Verbindung stehen. Je reicher das Blut unsichtbar
in den Adern kreist, umso üppiger werden die Blüten des Lebens
hervorsprossen. Die Behauptung, Homer habe Griechenland geschaffen,
spricht zwar buchstäbliche Wahrheit aus, bleibt aber einseitig und irre-
leitend, solange nicht hinzugefügt wird: nur ein unvergleichliches Volk,
nur eine ganz bestimmte, geadelte Rasse konnte diesen Mann hervor-
bringen, nur eine Rasse, bei der das sehende und gestaltende Auge
in überschwänglichster Weise zur Ausbildung gelangt war.1) Ohne
Homer wäre Griechenland nicht Griechenland geworden, ohne Hellenen
wäre Homer nie geboren. Die Rasse, die den grossen Seher der
Gestalten gebar, gebar auch den erfindungsreichen Seher der Figuren,
Euklid, den luchsäugigen Ordner der Begriffe, Aristoteles, den Mann,
der das System des Kosmos zuerst durchschaute, Aristarchos u. s. w.
ad infinitum. Die Natur ist nicht so einfach, wie die Schulweisheit
es sich träumt: ist grosse Persönlichkeit unser »höchstes Glück«, so
ist doch gemeinschaftliche Grösse der einzige Boden, auf dem sie er-
wachsen kann. Die ganze Rasse z. B. ist es, welche die Sprache
schafft, damit zugleich bestimmte künstlerische, philosophische, religiöse,
ja sogar praktische Möglichkeiten, aber auch unübersteigliche Schranken.
Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil
der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer
Gedanken absolut unmöglich macht; aus demselben Grunde konnte
kein semitisches Volk eine Mythologie im gleichen Sinne wie die
Inder und die Germanen besitzen. Man sieht, welche bestimmte Wege
auch die grössten Männer durch die gemeinsamen Leistungen der
ganzen Rasse gewiesen werden.2) Die Sprache ist es aber nicht allein.
Homer musste die Mythen vorfinden, um sie gestalten zu können;

1) Wer von der ungeheueren Kraft dieser Geschlechter, fähig einem Homer
als Grundlage zu dienen, sich eine lebendige Vorstellung machen will, der lese
die Beschreibungen der Burgen von Tiryns und Mykenä, aus atridischer Zeit, wie
sie heute noch, nach Jahrtausenden, dastehen.
2) Nach Renan (Israel, I, 102) vermag die hebräische Sprache: weder einen
philosophischen Gedanken, noch eine mythologische Vorstellung, noch das Gefühl
des Unendlichen, noch die Regungen des menschlichen Innern, noch die reine
Naturbetrachtung überhaupt zum Ausdruck zu bringen.
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[295/0318] Das Völkerchaos. ein Teil davon herauswächst? was soll mir das Auge, wenn die strahlenden Gestalten, die es erschaute, sich nicht weiterspiegeln in einer dahinter liegenden dunklen, fast amorphen Gehirnmasse? Er- scheinungen erhalten erst dadurch Bedeutung, dass sie mit anderen Erscheinungen in Verbindung stehen. Je reicher das Blut unsichtbar in den Adern kreist, umso üppiger werden die Blüten des Lebens hervorsprossen. Die Behauptung, Homer habe Griechenland geschaffen, spricht zwar buchstäbliche Wahrheit aus, bleibt aber einseitig und irre- leitend, solange nicht hinzugefügt wird: nur ein unvergleichliches Volk, nur eine ganz bestimmte, geadelte Rasse konnte diesen Mann hervor- bringen, nur eine Rasse, bei der das sehende und gestaltende Auge in überschwänglichster Weise zur Ausbildung gelangt war. 1) Ohne Homer wäre Griechenland nicht Griechenland geworden, ohne Hellenen wäre Homer nie geboren. Die Rasse, die den grossen Seher der Gestalten gebar, gebar auch den erfindungsreichen Seher der Figuren, Euklid, den luchsäugigen Ordner der Begriffe, Aristoteles, den Mann, der das System des Kosmos zuerst durchschaute, Aristarchos u. s. w. ad infinitum. Die Natur ist nicht so einfach, wie die Schulweisheit es sich träumt: ist grosse Persönlichkeit unser »höchstes Glück«, so ist doch gemeinschaftliche Grösse der einzige Boden, auf dem sie er- wachsen kann. Die ganze Rasse z. B. ist es, welche die Sprache schafft, damit zugleich bestimmte künstlerische, philosophische, religiöse, ja sogar praktische Möglichkeiten, aber auch unübersteigliche Schranken. Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich macht; aus demselben Grunde konnte kein semitisches Volk eine Mythologie im gleichen Sinne wie die Inder und die Germanen besitzen. Man sieht, welche bestimmte Wege auch die grössten Männer durch die gemeinsamen Leistungen der ganzen Rasse gewiesen werden. 2) Die Sprache ist es aber nicht allein. Homer musste die Mythen vorfinden, um sie gestalten zu können; 1) Wer von der ungeheueren Kraft dieser Geschlechter, fähig einem Homer als Grundlage zu dienen, sich eine lebendige Vorstellung machen will, der lese die Beschreibungen der Burgen von Tiryns und Mykenä, aus atridischer Zeit, wie sie heute noch, nach Jahrtausenden, dastehen. 2) Nach Renan (Israel, I, 102) vermag die hebräische Sprache: weder einen philosophischen Gedanken, noch eine mythologische Vorstellung, noch das Gefühl des Unendlichen, noch die Regungen des menschlichen Innern, noch die reine Naturbetrachtung überhaupt zum Ausdruck zu bringen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/318>, abgerufen am 13.05.2024.