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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
Ungeniertheit, das Liebste auf der Welt sei ihm Geld und Ruhm,
und noch als alter Mann schreibt er ausdrücklich, er nehme die ihm
von Commodus (dem Gladiatorenkaiser) angebotene hohe Beamten-
stelle des Geldes wegen an. Doch mit der Kunst wird's nichts. In
einer hochberühmten, doch meines Wissens bisher von keinem
Historiker nach ihrem wahren Inhalt gewürdigten Schrift, "der Traum",
sagt uns Lucian, weswegen er die Kunst aufgab und es vorzog,
Jurist und Litterat zu werden. Im Traume waren ihm zwei Weiber
erschienen: die eine "sah nach Arbeit aus" (!), hatte schwielige Hände,
das Gewand über und über von Gips befleckt, die andere war elegant
angezogen und stand gelassen da; die eine war die Kunst, die
andere ... wer es nicht schon weiss, wird es nie erraten, die andere
war die Bildung!1) Die arme Kunst bemüht sich, durch das
Beispiel von Phidias und Polyklet, Myron und Praxiteles ihren neuen
Jünger anzueifern, doch vergeblich; denn die Bildung thut überzeugend
dar, die Kunst sei eine "unedle Beschäftigung" (!); den ganzen Tag bleibe
der Künstler in einem schmutzigen Kittel über seine Arbeit gebückt, wie
ein Sklave; selbst Phidias sei nur "ein gemeiner Handwerker" gewesen,
der "von seiner Hände Arbeit lebte"; -- wer dagegen statt Kunst
die "Bildung" erwähle, dem stünden Reichtum und hohe Ämter in
Aussicht, und wenn er auf der Strasse spazieren gehe, dann würden
sich die Leute anstossen und sagen: "Schau', da geht der berühmte
Mann!"2) Schnell entschlossen springt Lucian auf: "das unschöne,
arbeitsvolle Leben verliess ich und trat zur Bildung über". Heute
Bildhauer, morgen Advokat; wer ohne Bestimmung geboren ist, kann
alles erwählen;3) wei nach Geld und Ruhm geht, braucht nicht in
die Höhe zu schauen und riskiert also nicht, wie der Held des
deutschen Kindermärchens, in den Brunnen zu fallen. Man glaube
nicht, jener "Traum" sei etwa eine Satire; als Rede gab ihn Lucian in

1) So wird, und wohl mit Recht, das griechische Wort paideia von den
besten Übersetzern hier verdeutscht; um Kindererziehung handelt es sich nicht
und "Wissenschaft" würde zu viel besagen. Dem etwaigen Einwurf, dass die erste
Frau sich zunächst nicht als die "Kunst" kurzweg, sondern als "die Kunst, Hermen
zu schnitzen" vorstellt, ist zu entgegnen, dass sie doch später einfach als Tekne
bezeichnet wird, und dass die Berufung auf Phidias und andere Künstler keinem
Zweifel über die Absicht Raum lässt.
2) Das leise Echo vernahmen wir in unserem Jahrhundert:
"Nennt man die besten Namen,
So wird auch der meine genannt!"
3) Vergl. S. 244.

Das Völkerchaos.
Ungeniertheit, das Liebste auf der Welt sei ihm Geld und Ruhm,
und noch als alter Mann schreibt er ausdrücklich, er nehme die ihm
von Commodus (dem Gladiatorenkaiser) angebotene hohe Beamten-
stelle des Geldes wegen an. Doch mit der Kunst wird’s nichts. In
einer hochberühmten, doch meines Wissens bisher von keinem
Historiker nach ihrem wahren Inhalt gewürdigten Schrift, »der Traum«,
sagt uns Lucian, weswegen er die Kunst aufgab und es vorzog,
Jurist und Litterat zu werden. Im Traume waren ihm zwei Weiber
erschienen: die eine »sah nach Arbeit aus« (!), hatte schwielige Hände,
das Gewand über und über von Gips befleckt, die andere war elegant
angezogen und stand gelassen da; die eine war die Kunst, die
andere … wer es nicht schon weiss, wird es nie erraten, die andere
war die Bildung!1) Die arme Kunst bemüht sich, durch das
Beispiel von Phidias und Polyklet, Myron und Praxiteles ihren neuen
Jünger anzueifern, doch vergeblich; denn die Bildung thut überzeugend
dar, die Kunst sei eine »unedle Beschäftigung« (!); den ganzen Tag bleibe
der Künstler in einem schmutzigen Kittel über seine Arbeit gebückt, wie
ein Sklave; selbst Phidias sei nur »ein gemeiner Handwerker« gewesen,
der »von seiner Hände Arbeit lebte«; — wer dagegen statt Kunst
die »Bildung« erwähle, dem stünden Reichtum und hohe Ämter in
Aussicht, und wenn er auf der Strasse spazieren gehe, dann würden
sich die Leute anstossen und sagen: »Schau’, da geht der berühmte
Mann!«2) Schnell entschlossen springt Lucian auf: »das unschöne,
arbeitsvolle Leben verliess ich und trat zur Bildung über«. Heute
Bildhauer, morgen Advokat; wer ohne Bestimmung geboren ist, kann
alles erwählen;3) weı nach Geld und Ruhm geht, braucht nicht in
die Höhe zu schauen und riskiert also nicht, wie der Held des
deutschen Kindermärchens, in den Brunnen zu fallen. Man glaube
nicht, jener »Traum« sei etwa eine Satire; als Rede gab ihn Lucian in

1) So wird, und wohl mit Recht, das griechische Wort παιδεία von den
besten Übersetzern hier verdeutscht; um Kindererziehung handelt es sich nicht
und »Wissenschaft« würde zu viel besagen. Dem etwaigen Einwurf, dass die erste
Frau sich zunächst nicht als die »Kunst« kurzweg, sondern als »die Kunst, Hermen
zu schnitzen« vorstellt, ist zu entgegnen, dass sie doch später einfach als Τέϰνη
bezeichnet wird, und dass die Berufung auf Phidias und andere Künstler keinem
Zweifel über die Absicht Raum lässt.
2) Das leise Echo vernahmen wir in unserem Jahrhundert:
»Nennt man die besten Namen,
So wird auch der meine genannt!«
3) Vergl. S. 244.
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[299/0322] Das Völkerchaos. Ungeniertheit, das Liebste auf der Welt sei ihm Geld und Ruhm, und noch als alter Mann schreibt er ausdrücklich, er nehme die ihm von Commodus (dem Gladiatorenkaiser) angebotene hohe Beamten- stelle des Geldes wegen an. Doch mit der Kunst wird’s nichts. In einer hochberühmten, doch meines Wissens bisher von keinem Historiker nach ihrem wahren Inhalt gewürdigten Schrift, »der Traum«, sagt uns Lucian, weswegen er die Kunst aufgab und es vorzog, Jurist und Litterat zu werden. Im Traume waren ihm zwei Weiber erschienen: die eine »sah nach Arbeit aus« (!), hatte schwielige Hände, das Gewand über und über von Gips befleckt, die andere war elegant angezogen und stand gelassen da; die eine war die Kunst, die andere … wer es nicht schon weiss, wird es nie erraten, die andere war die Bildung! 1) Die arme Kunst bemüht sich, durch das Beispiel von Phidias und Polyklet, Myron und Praxiteles ihren neuen Jünger anzueifern, doch vergeblich; denn die Bildung thut überzeugend dar, die Kunst sei eine »unedle Beschäftigung« (!); den ganzen Tag bleibe der Künstler in einem schmutzigen Kittel über seine Arbeit gebückt, wie ein Sklave; selbst Phidias sei nur »ein gemeiner Handwerker« gewesen, der »von seiner Hände Arbeit lebte«; — wer dagegen statt Kunst die »Bildung« erwähle, dem stünden Reichtum und hohe Ämter in Aussicht, und wenn er auf der Strasse spazieren gehe, dann würden sich die Leute anstossen und sagen: »Schau’, da geht der berühmte Mann!« 2) Schnell entschlossen springt Lucian auf: »das unschöne, arbeitsvolle Leben verliess ich und trat zur Bildung über«. Heute Bildhauer, morgen Advokat; wer ohne Bestimmung geboren ist, kann alles erwählen; 3) weı nach Geld und Ruhm geht, braucht nicht in die Höhe zu schauen und riskiert also nicht, wie der Held des deutschen Kindermärchens, in den Brunnen zu fallen. Man glaube nicht, jener »Traum« sei etwa eine Satire; als Rede gab ihn Lucian in 1) So wird, und wohl mit Recht, das griechische Wort παιδεία von den besten Übersetzern hier verdeutscht; um Kindererziehung handelt es sich nicht und »Wissenschaft« würde zu viel besagen. Dem etwaigen Einwurf, dass die erste Frau sich zunächst nicht als die »Kunst« kurzweg, sondern als »die Kunst, Hermen zu schnitzen« vorstellt, ist zu entgegnen, dass sie doch später einfach als Τέϰνη bezeichnet wird, und dass die Berufung auf Phidias und andere Künstler keinem Zweifel über die Absicht Raum lässt. 2) Das leise Echo vernahmen wir in unserem Jahrhundert: »Nennt man die besten Namen, So wird auch der meine genannt!« 3) Vergl. S. 244.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/322>, abgerufen am 13.05.2024.