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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
und dem Seitenfluss Khabur liegt (in gerader Linie etwa 600 Kilo-
meter, dem Flussthal aber folgend und den Weideplätzen nachgehend,
mindestens 1500 Kilometer von Ur entfernt); damit nicht genug, soll
dieser selbe Abraham später von Paddan-Aram nach Süd-Westen, nach
dem Lande Kanaan gezogen sein, von hier weiter nach Ägypten,
und schliesslich (denn von seinen kleineren Zügen sehe ich ab) von
Ägypten wieder nach Kanaan zurück, und das alles von so zahl-
reichen Viehherden begleitet, dass er um genug Weideland für sie zu
finden, gezwungen war, sich von seinen nächsten Anverwandten zu
trennen (Gen. XIII). Trotz dieser Verkürzung birgt die alte hebräische
Tradition alles, was zu wissen Not thut, namentlich an solchen Stellen,
wo die älteste Tradition fast unverfälscht vorliegt, wie die Kritik das
für Gen. XI, 27--32 nachgewiesen hat.1) Aus dieser Tradition ent-
nehmen wir nun, dass die betreffende Beduinenfamilie zunächst bis
in das Flussgebiet des südlichen Euphrat wanderte, und sich längere
Zeit in der Umgegend der Stadt Ur aufhielt. Diese Stadt lag südlich
vom grossen Fluss und bildete den äussersten Vorposten Chaldäas.
Hier traten die Nomaden zum ersten mal in Berührung mit Civili-
sation. Zwar konnten die Hirten nicht in deren eigentliches Gebiet
eindringen, da prächtige Städte und ein hochentwickelter Bodenbau
jeden Zoll Erde besetzt hielten, doch empfingen sie dort unvergäng-
liche Eindrücke und Belehrungen, (auf die ich später zurückkomme);
sogar solche Namen wie Abraham und Sarah haben sie dort erst
kennen gelernt und erst später durch die von ihnen so beliebten
Wortspiele ins Hebräische übertragen (Gen. XVII, 1--6). In der Nähe
so hoher Kultur litt es sie jedoch nicht lange, oder vielleicht wurden
sie von nachdringenden Wüstensöhnen weitergeschoben. Und so sehen
wir sie immer weiter nach Norden ziehen,2) bis in das damals spärlich

1) Vergl. Maspero: Historie ancienne, II. 65.
2) Die Richtung war ihnen vorgezeichnet, sie konnten von Ur aus keine
andere wählen; denn während mehrerer hundert Kilometer läuft die Wüste parallel
mit dem Euphrat, nur ein schmaler Saum bewässerten Bodens trennt sie von ihm;
plötzlich aber, genau unter dem 35. Grad, hört die Wüste auf und es öffnet sich
nach Westen, Süden und Norden das Land Syrien. Syrien reicht im Süden bis
nach Ägypten, gegen Abend bis zum Mittelländischen Meere, gegen Norden bis
zum Taurus, im Osten wird es heute vom Euphrat begrenzt, umschloss jedoch
nach früheren Verhältnissen und Vorstellungen das jenseits des mittleren Euphrat
gelegene Mesopotamien, in welchem die Kinder Abraham's Jahrhunderte lang Auf-
enthalt nahmen. (Vergl. die Kartenskizze auf S. 353.)

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
und dem Seitenfluss Khabur liegt (in gerader Linie etwa 600 Kilo-
meter, dem Flussthal aber folgend und den Weideplätzen nachgehend,
mindestens 1500 Kilometer von Ur entfernt); damit nicht genug, soll
dieser selbe Abraham später von Paddan-Aram nach Süd-Westen, nach
dem Lande Kanaan gezogen sein, von hier weiter nach Ägypten,
und schliesslich (denn von seinen kleineren Zügen sehe ich ab) von
Ägypten wieder nach Kanaan zurück, und das alles von so zahl-
reichen Viehherden begleitet, dass er um genug Weideland für sie zu
finden, gezwungen war, sich von seinen nächsten Anverwandten zu
trennen (Gen. XIII). Trotz dieser Verkürzung birgt die alte hebräische
Tradition alles, was zu wissen Not thut, namentlich an solchen Stellen,
wo die älteste Tradition fast unverfälscht vorliegt, wie die Kritik das
für Gen. XI, 27—32 nachgewiesen hat.1) Aus dieser Tradition ent-
nehmen wir nun, dass die betreffende Beduinenfamilie zunächst bis
in das Flussgebiet des südlichen Euphrat wanderte, und sich längere
Zeit in der Umgegend der Stadt Ur aufhielt. Diese Stadt lag südlich
vom grossen Fluss und bildete den äussersten Vorposten Chaldäas.
Hier traten die Nomaden zum ersten mal in Berührung mit Civili-
sation. Zwar konnten die Hirten nicht in deren eigentliches Gebiet
eindringen, da prächtige Städte und ein hochentwickelter Bodenbau
jeden Zoll Erde besetzt hielten, doch empfingen sie dort unvergäng-
liche Eindrücke und Belehrungen, (auf die ich später zurückkomme);
sogar solche Namen wie Abraham und Sarah haben sie dort erst
kennen gelernt und erst später durch die von ihnen so beliebten
Wortspiele ins Hebräische übertragen (Gen. XVII, 1—6). In der Nähe
so hoher Kultur litt es sie jedoch nicht lange, oder vielleicht wurden
sie von nachdringenden Wüstensöhnen weitergeschoben. Und so sehen
wir sie immer weiter nach Norden ziehen,2) bis in das damals spärlich

1) Vergl. Maspero: Historie ancienne, II. 65.
2) Die Richtung war ihnen vorgezeichnet, sie konnten von Ur aus keine
andere wählen; denn während mehrerer hundert Kilometer läuft die Wüste parallel
mit dem Euphrat, nur ein schmaler Saum bewässerten Bodens trennt sie von ihm;
plötzlich aber, genau unter dem 35. Grad, hört die Wüste auf und es öffnet sich
nach Westen, Süden und Norden das Land Syrien. Syrien reicht im Süden bis
nach Ägypten, gegen Abend bis zum Mittelländischen Meere, gegen Norden bis
zum Taurus, im Osten wird es heute vom Euphrat begrenzt, umschloss jedoch
nach früheren Verhältnissen und Vorstellungen das jenseits des mittleren Euphrat
gelegene Mesopotamien, in welchem die Kinder Abraham’s Jahrhunderte lang Auf-
enthalt nahmen. (Vergl. die Kartenskizze auf S. 353.)
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[351/0374] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. und dem Seitenfluss Khabur liegt (in gerader Linie etwa 600 Kilo- meter, dem Flussthal aber folgend und den Weideplätzen nachgehend, mindestens 1500 Kilometer von Ur entfernt); damit nicht genug, soll dieser selbe Abraham später von Paddan-Aram nach Süd-Westen, nach dem Lande Kanaan gezogen sein, von hier weiter nach Ägypten, und schliesslich (denn von seinen kleineren Zügen sehe ich ab) von Ägypten wieder nach Kanaan zurück, und das alles von so zahl- reichen Viehherden begleitet, dass er um genug Weideland für sie zu finden, gezwungen war, sich von seinen nächsten Anverwandten zu trennen (Gen. XIII). Trotz dieser Verkürzung birgt die alte hebräische Tradition alles, was zu wissen Not thut, namentlich an solchen Stellen, wo die älteste Tradition fast unverfälscht vorliegt, wie die Kritik das für Gen. XI, 27—32 nachgewiesen hat. 1) Aus dieser Tradition ent- nehmen wir nun, dass die betreffende Beduinenfamilie zunächst bis in das Flussgebiet des südlichen Euphrat wanderte, und sich längere Zeit in der Umgegend der Stadt Ur aufhielt. Diese Stadt lag südlich vom grossen Fluss und bildete den äussersten Vorposten Chaldäas. Hier traten die Nomaden zum ersten mal in Berührung mit Civili- sation. Zwar konnten die Hirten nicht in deren eigentliches Gebiet eindringen, da prächtige Städte und ein hochentwickelter Bodenbau jeden Zoll Erde besetzt hielten, doch empfingen sie dort unvergäng- liche Eindrücke und Belehrungen, (auf die ich später zurückkomme); sogar solche Namen wie Abraham und Sarah haben sie dort erst kennen gelernt und erst später durch die von ihnen so beliebten Wortspiele ins Hebräische übertragen (Gen. XVII, 1—6). In der Nähe so hoher Kultur litt es sie jedoch nicht lange, oder vielleicht wurden sie von nachdringenden Wüstensöhnen weitergeschoben. Und so sehen wir sie immer weiter nach Norden ziehen, 2) bis in das damals spärlich 1) Vergl. Maspero: Historie ancienne, II. 65. 2) Die Richtung war ihnen vorgezeichnet, sie konnten von Ur aus keine andere wählen; denn während mehrerer hundert Kilometer läuft die Wüste parallel mit dem Euphrat, nur ein schmaler Saum bewässerten Bodens trennt sie von ihm; plötzlich aber, genau unter dem 35. Grad, hört die Wüste auf und es öffnet sich nach Westen, Süden und Norden das Land Syrien. Syrien reicht im Süden bis nach Ägypten, gegen Abend bis zum Mittelländischen Meere, gegen Norden bis zum Taurus, im Osten wird es heute vom Euphrat begrenzt, umschloss jedoch nach früheren Verhältnissen und Vorstellungen das jenseits des mittleren Euphrat gelegene Mesopotamien, in welchem die Kinder Abraham’s Jahrhunderte lang Auf- enthalt nahmen. (Vergl. die Kartenskizze auf S. 353.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/374>, abgerufen am 12.05.2024.