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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
baren seien, sondern dass auch das ganze Leben -- die Welt, die ihm
als Schauplatz dient, die Agierenden, die sich auf dieser Bühne bewegen,
die Gedanken, die wir denken, die Liebe, die uns trunken macht, die
Pflichten, die wir erfüllen -- lediglich als Symbol aufzufassen sei;
er leugnete nicht die Wirklichkeit dieser Dinge, bestritt aber, dass ihre
Bedeutung durch das empirisch Wahrnehmbare erschöpft werde: "Auf
dem Standpunkt der höchsten Realität existiert das ganze empirische
Treiben nicht", lehren die heiligen Schriften der Inder,1) eine Erkenntnis,
die durch Goethe dauernden Ausdruck gefunden hat:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.

Und je tiefer diese Überzeugung sich in sein Bewusstsein einsenkte,
um so höher stieg die Vorstellung von der Tragweite seines indivi-
duellen Lebens: dieses Leben gewann jetzt kosmische Bedeutung.
Hatte doch die Schrift ihn gelehrt: "nur die Einheit allein ist im
höchsten Sinne real, die Vielheit klafft nur aus einer falschen Er-
kenntnis heraus". Die guten Werke, die ihm früher als Teil des
göttlichen Gebotes erschienen waren, galten jetzt nichts mehr: jetzt
galt nur noch die innerste Absicht, d. h. also das innerste Leben,
jede Regung des Gedankens, jede Zuckung des Herzens. Schaute das
semitische Gesetz lediglich auf den Erfolg, gar nicht auf die Absicht, so
war hier das andere Extrem erreicht: jeder Erfolg war ausgeschlossen
und ohnehin gleichgültig. Es galt jetzt den höchsten, schöpferischen
Akt zu vollbringen, das eigene Wesen umzugestalten, jede leiseste
Regung der bethörten individuellen Selbstsucht -- nicht zu kasteien,
das ist ein Geringes, sondern -- umzuwandeln, bis der Eine in das
All aufging. Das war "Erlösung". Doch glaube man nicht, hier
einen rein philosophischen Vorgang erblicken zu dürfen, es war ein
tief religiöser; denn eigene Kraft reichte nicht aus: das Sanskrit-Wort
für die höchste, alleinige Gottheit ist Brahman, d. h. das "Gebet";
nur durch Gnade konnte der Mensch der Erlösung teilhaftig werden,
und ehe man eine solche Gnade durch inbrünstiges Gebet erstreben
durfte, musste man durch ein frommes Leben sich dessen würdig
gezeigt haben. War aber dieser Punkt erreicht, dann glaubte der
Einzelne nicht mehr für sich allein, sondern für die ganze Welt zu
leben und zu sterben: daher das Gefühl der allumfassenden Verantwort-

1) Cankara, Vedantasautra's II, 1, 14 (auch für das folgende Citat).

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
baren seien, sondern dass auch das ganze Leben — die Welt, die ihm
als Schauplatz dient, die Agierenden, die sich auf dieser Bühne bewegen,
die Gedanken, die wir denken, die Liebe, die uns trunken macht, die
Pflichten, die wir erfüllen — lediglich als Symbol aufzufassen sei;
er leugnete nicht die Wirklichkeit dieser Dinge, bestritt aber, dass ihre
Bedeutung durch das empirisch Wahrnehmbare erschöpft werde: »Auf
dem Standpunkt der höchsten Realität existiert das ganze empirische
Treiben nicht«, lehren die heiligen Schriften der Inder,1) eine Erkenntnis,
die durch Goethe dauernden Ausdruck gefunden hat:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.

Und je tiefer diese Überzeugung sich in sein Bewusstsein einsenkte,
um so höher stieg die Vorstellung von der Tragweite seines indivi-
duellen Lebens: dieses Leben gewann jetzt kosmische Bedeutung.
Hatte doch die Schrift ihn gelehrt: »nur die Einheit allein ist im
höchsten Sinne real, die Vielheit klafft nur aus einer falschen Er-
kenntnis heraus«. Die guten Werke, die ihm früher als Teil des
göttlichen Gebotes erschienen waren, galten jetzt nichts mehr: jetzt
galt nur noch die innerste Absicht, d. h. also das innerste Leben,
jede Regung des Gedankens, jede Zuckung des Herzens. Schaute das
semitische Gesetz lediglich auf den Erfolg, gar nicht auf die Absicht, so
war hier das andere Extrem erreicht: jeder Erfolg war ausgeschlossen
und ohnehin gleichgültig. Es galt jetzt den höchsten, schöpferischen
Akt zu vollbringen, das eigene Wesen umzugestalten, jede leiseste
Regung der bethörten individuellen Selbstsucht — nicht zu kasteien,
das ist ein Geringes, sondern — umzuwandeln, bis der Eine in das
All aufging. Das war »Erlösung«. Doch glaube man nicht, hier
einen rein philosophischen Vorgang erblicken zu dürfen, es war ein
tief religiöser; denn eigene Kraft reichte nicht aus: das Sanskrit-Wort
für die höchste, alleinige Gottheit ist Brahman, d. h. das »Gebet«;
nur durch Gnade konnte der Mensch der Erlösung teilhaftig werden,
und ehe man eine solche Gnade durch inbrünstiges Gebet erstreben
durfte, musste man durch ein frommes Leben sich dessen würdig
gezeigt haben. War aber dieser Punkt erreicht, dann glaubte der
Einzelne nicht mehr für sich allein, sondern für die ganze Welt zu
leben und zu sterben: daher das Gefühl der allumfassenden Verantwort-

1) Çankara, Vedântasûtra’s II, 1, 14 (auch für das folgende Citat).
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[413/0436] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. baren seien, sondern dass auch das ganze Leben — die Welt, die ihm als Schauplatz dient, die Agierenden, die sich auf dieser Bühne bewegen, die Gedanken, die wir denken, die Liebe, die uns trunken macht, die Pflichten, die wir erfüllen — lediglich als Symbol aufzufassen sei; er leugnete nicht die Wirklichkeit dieser Dinge, bestritt aber, dass ihre Bedeutung durch das empirisch Wahrnehmbare erschöpft werde: »Auf dem Standpunkt der höchsten Realität existiert das ganze empirische Treiben nicht«, lehren die heiligen Schriften der Inder, 1) eine Erkenntnis, die durch Goethe dauernden Ausdruck gefunden hat: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis. Und je tiefer diese Überzeugung sich in sein Bewusstsein einsenkte, um so höher stieg die Vorstellung von der Tragweite seines indivi- duellen Lebens: dieses Leben gewann jetzt kosmische Bedeutung. Hatte doch die Schrift ihn gelehrt: »nur die Einheit allein ist im höchsten Sinne real, die Vielheit klafft nur aus einer falschen Er- kenntnis heraus«. Die guten Werke, die ihm früher als Teil des göttlichen Gebotes erschienen waren, galten jetzt nichts mehr: jetzt galt nur noch die innerste Absicht, d. h. also das innerste Leben, jede Regung des Gedankens, jede Zuckung des Herzens. Schaute das semitische Gesetz lediglich auf den Erfolg, gar nicht auf die Absicht, so war hier das andere Extrem erreicht: jeder Erfolg war ausgeschlossen und ohnehin gleichgültig. Es galt jetzt den höchsten, schöpferischen Akt zu vollbringen, das eigene Wesen umzugestalten, jede leiseste Regung der bethörten individuellen Selbstsucht — nicht zu kasteien, das ist ein Geringes, sondern — umzuwandeln, bis der Eine in das All aufging. Das war »Erlösung«. Doch glaube man nicht, hier einen rein philosophischen Vorgang erblicken zu dürfen, es war ein tief religiöser; denn eigene Kraft reichte nicht aus: das Sanskrit-Wort für die höchste, alleinige Gottheit ist Brahman, d. h. das »Gebet«; nur durch Gnade konnte der Mensch der Erlösung teilhaftig werden, und ehe man eine solche Gnade durch inbrünstiges Gebet erstreben durfte, musste man durch ein frommes Leben sich dessen würdig gezeigt haben. War aber dieser Punkt erreicht, dann glaubte der Einzelne nicht mehr für sich allein, sondern für die ganze Welt zu leben und zu sterben: daher das Gefühl der allumfassenden Verantwort- 1) Çankara, Vedântasûtra’s II, 1, 14 (auch für das folgende Citat).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/436>, abgerufen am 21.05.2024.