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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
nicht wie die mathematischen: es genügt nicht, zu sagen, das und
jenes ist so und so, sondern erst durch die negative Ergänzung: nicht
so und nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird
der Begriff aus dem Worte erlöst.

Rückblick.

Wir fanden in der Freiheit und der Treue die zwei Wurzeln
des germanischen Wesens oder, wenn man will, die beiden Flügel,
die es himmelwärts tragen. Nicht leere Worte waren das, sondern
ein jedes umschloss einen weiten Komplex lebendiger Vorstellungen
und Erfahrungen und geschichtlicher Thatsachen. Eine derartige Ver-
einfachung war äusserlich nur dadurch gerechtfertigt, dass wir reiche
Gaben als die unumgängliche Grundlage dieser Eigenschaften nach-
wiesen: körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende
Phantasie, unermüdlichen Schaffensdrang. Auch flossen Freiheit und
Treue ineinander über wie alle wahren Naturkräfte: die spezifisch
germanische Treue war eine Erscheinung der geläutertsten Freiheit,
die Bewährung der Freiheit, Treue gegen das eigene Wesen. Hier
erhellt ebenfalls die spezifisch germanische Bedeutung des Begriffes:
Pflicht. Goethe sagt einmal -- er redet von Kunstgeschmack, es
gilt aber auf allen Gebieten --: "Uns auf der Höhe unserer barbarischen
Vorteile mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht."1) Das ist Shake-
speare's: sei dir selber treu! Das ist Nelson's Signal am Morgen der
Schlacht bei Trafalgar: "Das Vaterland erwartet, dass Jedermann seine
Pflicht thue!" Seine Pflicht? Die Treue gegen sich selbst, die Be-
währung seiner barbarischen Vorteile, d. h. (wie Montesquieu uns
belehrte) der ihm angeborenen Freiheit. Im Gegensatz hierzu erblickten
wir dann einen Mann, der die Vernichtung der Freiheit -- Freiheit
des Willens, Freiheit des Erkennens, Freiheit des Schaffens -- als
oberstes Gesetz verkündet, und der die Treue (welche ohne Freiheit
bedeutungslos wäre) durch den Gehorsam ersetzt. Der Mensch soll
werden -- so sagt Loyola buchstäblich in den Konstitutionen für
seinen Orden -- "als ob er ein Leichnam wäre, der sich auf jede
Seite wenden und auf jede Weise mit sich verfahren lässt, oder wie
der Stab eines Greises, der dem, welcher ihn in der Hand hält, überall
und immer dient, wie und wo er ihn gebrauchen will."2) Es wäre
wohl unmöglich, den Gegensatz zu allem arischen Denken und Fühlen

1) Anmerkungen zu Rameau's Neffe.
2) "perinde ac si cadaver essent, quod quoquoversus ferri, et quacumque ratione
tractare se sinit: vel similiter atque senis baculus, qui obicumque et quacumque in re
velit eo uti, qui eum manu tenet, ei inservit
".

Die Erben.
nicht wie die mathematischen: es genügt nicht, zu sagen, das und
jenes ist so und so, sondern erst durch die negative Ergänzung: nicht
so und nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird
der Begriff aus dem Worte erlöst.

Rückblick.

Wir fanden in der Freiheit und der Treue die zwei Wurzeln
des germanischen Wesens oder, wenn man will, die beiden Flügel,
die es himmelwärts tragen. Nicht leere Worte waren das, sondern
ein jedes umschloss einen weiten Komplex lebendiger Vorstellungen
und Erfahrungen und geschichtlicher Thatsachen. Eine derartige Ver-
einfachung war äusserlich nur dadurch gerechtfertigt, dass wir reiche
Gaben als die unumgängliche Grundlage dieser Eigenschaften nach-
wiesen: körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende
Phantasie, unermüdlichen Schaffensdrang. Auch flossen Freiheit und
Treue ineinander über wie alle wahren Naturkräfte: die spezifisch
germanische Treue war eine Erscheinung der geläutertsten Freiheit,
die Bewährung der Freiheit, Treue gegen das eigene Wesen. Hier
erhellt ebenfalls die spezifisch germanische Bedeutung des Begriffes:
Pflicht. Goethe sagt einmal — er redet von Kunstgeschmack, es
gilt aber auf allen Gebieten —: »Uns auf der Höhe unserer barbarischen
Vorteile mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht.«1) Das ist Shake-
speare’s: sei dir selber treu! Das ist Nelson’s Signal am Morgen der
Schlacht bei Trafalgar: »Das Vaterland erwartet, dass Jedermann seine
Pflicht thue!« Seine Pflicht? Die Treue gegen sich selbst, die Be-
währung seiner barbarischen Vorteile, d. h. (wie Montesquieu uns
belehrte) der ihm angeborenen Freiheit. Im Gegensatz hierzu erblickten
wir dann einen Mann, der die Vernichtung der Freiheit — Freiheit
des Willens, Freiheit des Erkennens, Freiheit des Schaffens — als
oberstes Gesetz verkündet, und der die Treue (welche ohne Freiheit
bedeutungslos wäre) durch den Gehorsam ersetzt. Der Mensch soll
werden — so sagt Loyola buchstäblich in den Konstitutionen für
seinen Orden — »als ob er ein Leichnam wäre, der sich auf jede
Seite wenden und auf jede Weise mit sich verfahren lässt, oder wie
der Stab eines Greises, der dem, welcher ihn in der Hand hält, überall
und immer dient, wie und wo er ihn gebrauchen will.«2) Es wäre
wohl unmöglich, den Gegensatz zu allem arischen Denken und Fühlen

1) Anmerkungen zu Rameau’s Neffe.
2) »perinde ac si cadaver essent, quod quoquoversus ferri, et quacumque ratione
tractare se sinit: vel similiter atque senis baculus, qui obicumque et quacumque in re
velit eo uti, qui eum manu tenet, ei inservit
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[528/0551] Die Erben. nicht wie die mathematischen: es genügt nicht, zu sagen, das und jenes ist so und so, sondern erst durch die negative Ergänzung: nicht so und nicht so, gewinnt die positive Schilderung Relief und wird der Begriff aus dem Worte erlöst. Wir fanden in der Freiheit und der Treue die zwei Wurzeln des germanischen Wesens oder, wenn man will, die beiden Flügel, die es himmelwärts tragen. Nicht leere Worte waren das, sondern ein jedes umschloss einen weiten Komplex lebendiger Vorstellungen und Erfahrungen und geschichtlicher Thatsachen. Eine derartige Ver- einfachung war äusserlich nur dadurch gerechtfertigt, dass wir reiche Gaben als die unumgängliche Grundlage dieser Eigenschaften nach- wiesen: körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende Phantasie, unermüdlichen Schaffensdrang. Auch flossen Freiheit und Treue ineinander über wie alle wahren Naturkräfte: die spezifisch germanische Treue war eine Erscheinung der geläutertsten Freiheit, die Bewährung der Freiheit, Treue gegen das eigene Wesen. Hier erhellt ebenfalls die spezifisch germanische Bedeutung des Begriffes: Pflicht. Goethe sagt einmal — er redet von Kunstgeschmack, es gilt aber auf allen Gebieten —: »Uns auf der Höhe unserer barbarischen Vorteile mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht.« 1) Das ist Shake- speare’s: sei dir selber treu! Das ist Nelson’s Signal am Morgen der Schlacht bei Trafalgar: »Das Vaterland erwartet, dass Jedermann seine Pflicht thue!« Seine Pflicht? Die Treue gegen sich selbst, die Be- währung seiner barbarischen Vorteile, d. h. (wie Montesquieu uns belehrte) der ihm angeborenen Freiheit. Im Gegensatz hierzu erblickten wir dann einen Mann, der die Vernichtung der Freiheit — Freiheit des Willens, Freiheit des Erkennens, Freiheit des Schaffens — als oberstes Gesetz verkündet, und der die Treue (welche ohne Freiheit bedeutungslos wäre) durch den Gehorsam ersetzt. Der Mensch soll werden — so sagt Loyola buchstäblich in den Konstitutionen für seinen Orden — »als ob er ein Leichnam wäre, der sich auf jede Seite wenden und auf jede Weise mit sich verfahren lässt, oder wie der Stab eines Greises, der dem, welcher ihn in der Hand hält, überall und immer dient, wie und wo er ihn gebrauchen will.« 2) Es wäre wohl unmöglich, den Gegensatz zu allem arischen Denken und Fühlen 1) Anmerkungen zu Rameau’s Neffe. 2) »perinde ac si cadaver essent, quod quoquoversus ferri, et quacumque ratione tractare se sinit: vel similiter atque senis baculus, qui obicumque et quacumque in re velit eo uti, qui eum manu tenet, ei inservit«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/551>, abgerufen am 30.04.2024.