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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
charakteristischer Zug, als dass ich ihn entbehren möchte. Der Germane
ist nicht Pessimist wie der Inder, er ist auch kein guter Kritiker;
eigentlich denkt er, im Vergleich mit anderen Ariern, überhaupt wenig;
seine Gaben treiben ihn zum Handeln und zum Empfinden. Die
Deutschen gar ein "Volk von Denkern" zu nennen, ist bitterer Spott;
ein Volk von Soldaten und von Kaufleuten wäre jedenfalls richtiger,
auch von Gelehrten und von Künstlern -- aber von Denkern? nein,
diese sind spärlich gesäet. Darum konnte Luther die Deutschen geradezu
"blinde Leute" nennen; die übrigen Germanen sind es kaum weniger;
denn zum Sehen gehört analytisches Denken, und dazu wiederum
gehört Anlage, Zeit, Übung. Der Germane ist mit anderen Dingen
beschäftigt; er hat seinen "Eintritt in die Weltgeschichte" noch lange
nicht beendet; er muss erst von der ganzen Erde Besitz ergriffen, die
Natur nach allen Seiten erforscht, sich ihre Kräfte dienstbar gemacht,
er muss erst die Ausdrucksmittel der Kunst auf einen nie geahnten
Grad der allseitigen Vollkommenheit gebracht und ungeheures histo-
risches Wissen als Material zusammengetragen haben -- dann vielleicht
wird er Zeit finden, sich zu fragen, was unmittelbar um ihn herum
vorgeht. Bis dahin wird er fortfahren, am Rande des Abgrundes mit
derselben Gemütsruhe fortzuschreiten wie auf blumiger Wiese. Daran
lässt sich nichts ändern, denn diese Sorglosigkeit gehört, wie gesagt,
zum Charakter des Germanen. Griechen und Römer waren nicht
unähnlich: die Einen dichteten und dachten, die Anderen eroberten
emsig weiter, ohne dass sie (wie die Juden) über sich selber zur Be-
sinnung gekommen wären, ohne dass sie auch nur bemerkt hätten,
wie der Gang der Ereignisse sie von der Erdoberfläche austilgte; nicht
wie andere Völker fielen sie tot hin, sondern langsam stiegen sie in
den Hades hinab, bis zuletzt lebendig, bis zuletzt voll Kraft, sieges-
bewusst und stolz.1)

Und so muss es mir bescheidenem Historiker -- der ich auf
den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe
besitze, die Zukunft hell zu erschauen -- genügen, dem Zwecke
dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom
Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte,
vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und

1) Man denkt hierbei an das, was Goethe "ein für allemal das grossartigste
Symbol" nannte: eine untergehende Sonne über einem Meere, mit der Legende
,Auch im Untergehen bleibt sie die selbe'. (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller,
24. März 1824.)

Die Erben.
charakteristischer Zug, als dass ich ihn entbehren möchte. Der Germane
ist nicht Pessimist wie der Inder, er ist auch kein guter Kritiker;
eigentlich denkt er, im Vergleich mit anderen Ariern, überhaupt wenig;
seine Gaben treiben ihn zum Handeln und zum Empfinden. Die
Deutschen gar ein »Volk von Denkern« zu nennen, ist bitterer Spott;
ein Volk von Soldaten und von Kaufleuten wäre jedenfalls richtiger,
auch von Gelehrten und von Künstlern — aber von Denkern? nein,
diese sind spärlich gesäet. Darum konnte Luther die Deutschen geradezu
»blinde Leute« nennen; die übrigen Germanen sind es kaum weniger;
denn zum Sehen gehört analytisches Denken, und dazu wiederum
gehört Anlage, Zeit, Übung. Der Germane ist mit anderen Dingen
beschäftigt; er hat seinen »Eintritt in die Weltgeschichte« noch lange
nicht beendet; er muss erst von der ganzen Erde Besitz ergriffen, die
Natur nach allen Seiten erforscht, sich ihre Kräfte dienstbar gemacht,
er muss erst die Ausdrucksmittel der Kunst auf einen nie geahnten
Grad der allseitigen Vollkommenheit gebracht und ungeheures histo-
risches Wissen als Material zusammengetragen haben — dann vielleicht
wird er Zeit finden, sich zu fragen, was unmittelbar um ihn herum
vorgeht. Bis dahin wird er fortfahren, am Rande des Abgrundes mit
derselben Gemütsruhe fortzuschreiten wie auf blumiger Wiese. Daran
lässt sich nichts ändern, denn diese Sorglosigkeit gehört, wie gesagt,
zum Charakter des Germanen. Griechen und Römer waren nicht
unähnlich: die Einen dichteten und dachten, die Anderen eroberten
emsig weiter, ohne dass sie (wie die Juden) über sich selber zur Be-
sinnung gekommen wären, ohne dass sie auch nur bemerkt hätten,
wie der Gang der Ereignisse sie von der Erdoberfläche austilgte; nicht
wie andere Völker fielen sie tot hin, sondern langsam stiegen sie in
den Hades hinab, bis zuletzt lebendig, bis zuletzt voll Kraft, sieges-
bewusst und stolz.1)

Und so muss es mir bescheidenem Historiker — der ich auf
den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe
besitze, die Zukunft hell zu erschauen — genügen, dem Zwecke
dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom
Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte,
vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und

1) Man denkt hierbei an das, was Goethe »ein für allemal das grossartigste
Symbol« nannte: eine untergehende Sonne über einem Meere, mit der Legende
‚Auch im Untergehen bleibt sie die selbe‛. (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller,
24. März 1824.)
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[530/0553] Die Erben. charakteristischer Zug, als dass ich ihn entbehren möchte. Der Germane ist nicht Pessimist wie der Inder, er ist auch kein guter Kritiker; eigentlich denkt er, im Vergleich mit anderen Ariern, überhaupt wenig; seine Gaben treiben ihn zum Handeln und zum Empfinden. Die Deutschen gar ein »Volk von Denkern« zu nennen, ist bitterer Spott; ein Volk von Soldaten und von Kaufleuten wäre jedenfalls richtiger, auch von Gelehrten und von Künstlern — aber von Denkern? nein, diese sind spärlich gesäet. Darum konnte Luther die Deutschen geradezu »blinde Leute« nennen; die übrigen Germanen sind es kaum weniger; denn zum Sehen gehört analytisches Denken, und dazu wiederum gehört Anlage, Zeit, Übung. Der Germane ist mit anderen Dingen beschäftigt; er hat seinen »Eintritt in die Weltgeschichte« noch lange nicht beendet; er muss erst von der ganzen Erde Besitz ergriffen, die Natur nach allen Seiten erforscht, sich ihre Kräfte dienstbar gemacht, er muss erst die Ausdrucksmittel der Kunst auf einen nie geahnten Grad der allseitigen Vollkommenheit gebracht und ungeheures histo- risches Wissen als Material zusammengetragen haben — dann vielleicht wird er Zeit finden, sich zu fragen, was unmittelbar um ihn herum vorgeht. Bis dahin wird er fortfahren, am Rande des Abgrundes mit derselben Gemütsruhe fortzuschreiten wie auf blumiger Wiese. Daran lässt sich nichts ändern, denn diese Sorglosigkeit gehört, wie gesagt, zum Charakter des Germanen. Griechen und Römer waren nicht unähnlich: die Einen dichteten und dachten, die Anderen eroberten emsig weiter, ohne dass sie (wie die Juden) über sich selber zur Be- sinnung gekommen wären, ohne dass sie auch nur bemerkt hätten, wie der Gang der Ereignisse sie von der Erdoberfläche austilgte; nicht wie andere Völker fielen sie tot hin, sondern langsam stiegen sie in den Hades hinab, bis zuletzt lebendig, bis zuletzt voll Kraft, sieges- bewusst und stolz. 1) Und so muss es mir bescheidenem Historiker — der ich auf den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe besitze, die Zukunft hell zu erschauen — genügen, dem Zwecke dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte, vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und 1) Man denkt hierbei an das, was Goethe »ein für allemal das grossartigste Symbol« nannte: eine untergehende Sonne über einem Meere, mit der Legende ‚Auch im Untergehen bleibt sie die selbe‛. (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, 24. März 1824.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/553>, abgerufen am 30.04.2024.