Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erbe der alten Welt.
eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, -- trotzdem gar
kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er-
forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent-
licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in
das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer
weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte.
Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die
Anerkennung der grossen Trias -- Kopernikus, Kepler, Newton --
kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor-
treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen
Taschenbuche gegen die "Tychonianer" zu Felde zu ziehen, und
erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig
gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche
die Bewegung der Erde lehren!

Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen,
in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier
gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits-
rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen
Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt
hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft
bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie
langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur
"Geschichte"; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und
bleibt das thatsächliche Leben des Helden.

Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge-
samten Geschichte der Menschheit.1) Keine Schlacht, kein Regierungs-
antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung,
welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden
könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch
immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es
ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das erste nennen,
und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem
gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche "Geschichte"
beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum
Christentume gehören -- die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w.
-- haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen

1) Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein-
lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.

Das Erbe der alten Welt.
eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, — trotzdem gar
kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er-
forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent-
licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in
das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer
weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte.
Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die
Anerkennung der grossen Trias — Kopernikus, Kepler, Newton —
kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor-
treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen
Taschenbuche gegen die »Tychonianer« zu Felde zu ziehen, und
erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig
gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche
die Bewegung der Erde lehren!

Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen,
in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier
gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits-
rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen
Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt
hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft
bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie
langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur
»Geschichte«; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und
bleibt das thatsächliche Leben des Helden.

Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge-
samten Geschichte der Menschheit.1) Keine Schlacht, kein Regierungs-
antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung,
welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden
könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch
immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es
ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das erste nennen,
und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem
gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche »Geschichte«
beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum
Christentume gehören — die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w.
— haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen

1) Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein-
lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0065" n="42"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/>
eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, &#x2014; trotzdem gar<lb/>
kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er-<lb/>
forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent-<lb/>
licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in<lb/>
das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer<lb/>
weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte.<lb/>
Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die<lb/>
Anerkennung der grossen Trias &#x2014; Kopernikus, Kepler, Newton &#x2014;<lb/>
kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor-<lb/>
treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen<lb/>
Taschenbuche gegen die »Tychonianer« zu Felde zu ziehen, und<lb/>
erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig<lb/>
gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche<lb/>
die Bewegung der Erde lehren!</p><lb/>
            <p>Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen,<lb/>
in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier<lb/>
gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits-<lb/>
rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen<lb/>
Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt<lb/>
hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft<lb/>
bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie<lb/>
langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur<lb/>
»Geschichte«; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und<lb/>
bleibt das thatsächliche Leben des Helden.</p><lb/>
            <p>Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge-<lb/>
samten Geschichte der Menschheit.<note place="foot" n="1)">Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein-<lb/>
lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.</note> Keine Schlacht, kein Regierungs-<lb/>
antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung,<lb/>
welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden<lb/>
könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch<lb/>
immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es<lb/>
ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das <hi rendition="#g">erste</hi> nennen,<lb/>
und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem<lb/>
gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche »Geschichte«<lb/>
beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum<lb/>
Christentume gehören &#x2014; die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w.<lb/>
&#x2014; haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0065] Das Erbe der alten Welt. eine einfache und dazu beweisbare Anschauung, — trotzdem gar kein materielles Interesse durch die neue Lehre tangiert wurde, er- forderte es geraume Zeit, bis diese in so mannigfacher und wesent- licher Beziehung umbildende Vorstellung aus dem einen Gehirn in das einzelner anderer bevorzugter Männer hinüberzog und, immer weiter um sich greifend, zuletzt die gesamte Menschheit beherrschte. Wie Voltaire in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für die Anerkennung der grossen Trias — Kopernikus, Kepler, Newton — kämpfte, ist allbekannt, aber noch im Jahre 1779 sah sich der vor- treffliche Georg Christoph Lichtenberg genötigt, im Göttingischen Taschenbuche gegen die »Tychonianer« zu Felde zu ziehen, und erst im Jahre des Heiles ein tausend acht hundert und zwei und zwanzig gestattete die Kongregation des Index den Druck von Büchern, welche die Bewegung der Erde lehren! Diese Bemerkung schicke ich voraus, um begreiflich zu machen, in welchem Sinne das Jahr 1 zum Ausgangspunkt unserer Zeit hier gewählt wird. Es geschieht nicht zufällig, etwa aus Bequemlichkeits- rücksichten, ebensowenig aber, weil der äussere Gang der politischen Geschehnisse dieses Jahr zu einem besonders auffälligen gestempelt hätte, sondern weil die einfachste Logik uns nötigt, eine neue Kraft bis auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen. Wie schnell oder wie langsam sie zur wirkenden Kraft heranwächst, gehört schon zur »Geschichte«; die lebendige Quelle jeder späteren Wirkung ist und bleibt das thatsächliche Leben des Helden. Die Geburt Jesu Christi ist nun das wichtigste Datum der ge- samten Geschichte der Menschheit. 1) Keine Schlacht, kein Regierungs- antritt, kein Naturphänomen, keine Entdeckung besitzt eine Bedeutung, welche mit dem kurzen Erdenleben des Galiläers verglichen werden könnte; eine fast zweitausendjährige Geschichte beweist es, und noch immer haben wir kaum die Schwelle des Christentums betreten. Es ist tief innerlich berechtigt, wenn wir jenes Jahr das erste nennen, und wenn wir von ihm aus unsere Zeit rechnen. Ja, in einem gewissen Sinne dürfte man wohl sagen, eigentliche »Geschichte« beginne erst mit Christi Geburt. Die Völker, die heute noch nicht zum Christentume gehören — die Chinesen, die Inder, die Türken u. s. w. — haben alle heute noch keine wahre Geschichte, sondern kennen 1) Dass diese Geburt nicht im Jahre 1 stattfand, sondern aller Wahrschein- lichkeit nach einige Jahre früher, ist für uns hier belanglos.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/65
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/65>, abgerufen am 27.04.2024.