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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
den geographischen besonders sichtbar. Aus Gier nach Besitz, zugleich
aus religiösem Fanatismus hatten die Staaten Europa's sich des geo-
graphischen Entdeckungswerkes angenommen; das Hauptergebnis für
den Menschengeist war aber zunächst die Feststellung, dass die Erde
rund ist. Die Bedeutung dieser Entdeckung ist einfach unermessbar.
Zwar war die sphärische Gestalt der Erde schon längst von den Pytha-
goreern vermutet und von gelehrten Männern zu allen Zeiten vielfach be-
hauptet worden; doch ist es ein gewaltig weiter Schritt von derartigen
theoretischen Erwägungen bis zu einem unwiderleglichen, konkreten,
augenfälligen Nachweis. Dass die Kirche nicht wirklich an die Kugel-
gestalt der Erde glaubte, geht zur Genüge aus jenen Schenkungsbullen
des Jahres 1493 hervor (S. 675): denn "westlich" von einem jeden Breiten-
grade liegt die ganze Erde. Dass Augustinus die Annahme von Anti-
poden für absurd und schriftwidrig hielt, habe ich schon früher angeführt
(S. 538). Am Schlusse des 15. Jahrhunderts galt für die Gläubigen
noch immer die Geographie des Mönches Cosmas Indicopleustes als
massgebend, welcher die Ansicht der griechischen Gelehrten für Gottes-
lästerung erklärt und die Welt sich als ein flaches Rechteck denkt,
das die vier Wände des Himmels einschliessen; oberhalb der gewölbten
Sternendecke wohnen Gott und die Engel.1) Mag man auch heute
über derartige Vorstellungen lächeln, sie waren und sind durch die
Kirchenlehre geboten. So warnt z. B. Thomas von Aquin bezüglich
der Hölle ausdrücklich vor der Tendenz, sie nur geistig aufzufassen;
im Gegenteil, die Menschen würden dort poenas corporeas, leibliche
Strafen, leiden, und die Flammen der Hölle seien secundum litteram
intelligenda,
d. h. buchstäblich zu verstehen, was doch die Vorstellung
eines Ortes -- nämlich "unterhalb der Erde" -- bedingt.2) Ein

1) Vergl. Fiske: Discovery of America, ch. III.
2) Compendium Theologiae, cap. CLXXIX. Dass Thomas von Aquin auch
an eine bestimmte Lokalisation des Himmels glaubte, wenngleich er weniger Nach-
druck darauf gelegt zu haben scheint, bezweifle ich nicht. Konrad von Megen-
berg, der genau 100 Jahre nach ihm starb (1374), ein sehr gelehrter und frommer
Mann, Kanonikus am Regensburger Dom und Verfasser der allerersten Naturge-
schichte in deutscher Sprache, sagt ausdrücklich in dem astronomischen Teil seines
Werkes: "Der erste und oberste Himmel (es giebt ihrer zehn) steht still und
dreht sich nicht. Er heisst auf lateinisch Empyreum, zu deutsch Feuerhimmel,
weil er in übernatürlich hellem Schein glüht und leuchtet. In ihm wohnt
Gott mit seinen Auserwählten
" (Das Buch der Natur, II, 1). Die neue
Astronomie, fussend auf der neuen Geographie, vernichtete also geradezu die "Woh-
nung Gottes", an die bis dahin selbst gelehrte und freisinnige Männer geglaubt

Die Entstehung einer neuen Welt.
den geographischen besonders sichtbar. Aus Gier nach Besitz, zugleich
aus religiösem Fanatismus hatten die Staaten Europa’s sich des geo-
graphischen Entdeckungswerkes angenommen; das Hauptergebnis für
den Menschengeist war aber zunächst die Feststellung, dass die Erde
rund ist. Die Bedeutung dieser Entdeckung ist einfach unermessbar.
Zwar war die sphärische Gestalt der Erde schon längst von den Pytha-
goreern vermutet und von gelehrten Männern zu allen Zeiten vielfach be-
hauptet worden; doch ist es ein gewaltig weiter Schritt von derartigen
theoretischen Erwägungen bis zu einem unwiderleglichen, konkreten,
augenfälligen Nachweis. Dass die Kirche nicht wirklich an die Kugel-
gestalt der Erde glaubte, geht zur Genüge aus jenen Schenkungsbullen
des Jahres 1493 hervor (S. 675): denn »westlich« von einem jeden Breiten-
grade liegt die ganze Erde. Dass Augustinus die Annahme von Anti-
poden für absurd und schriftwidrig hielt, habe ich schon früher angeführt
(S. 538). Am Schlusse des 15. Jahrhunderts galt für die Gläubigen
noch immer die Geographie des Mönches Cosmas Indicopleustes als
massgebend, welcher die Ansicht der griechischen Gelehrten für Gottes-
lästerung erklärt und die Welt sich als ein flaches Rechteck denkt,
das die vier Wände des Himmels einschliessen; oberhalb der gewölbten
Sternendecke wohnen Gott und die Engel.1) Mag man auch heute
über derartige Vorstellungen lächeln, sie waren und sind durch die
Kirchenlehre geboten. So warnt z. B. Thomas von Aquin bezüglich
der Hölle ausdrücklich vor der Tendenz, sie nur geistig aufzufassen;
im Gegenteil, die Menschen würden dort poenas corporeas, leibliche
Strafen, leiden, und die Flammen der Hölle seien secundum litteram
intelligenda,
d. h. buchstäblich zu verstehen, was doch die Vorstellung
eines Ortes — nämlich »unterhalb der Erde« — bedingt.2) Ein

1) Vergl. Fiske: Discovery of America, ch. III.
2) Compendium Theologiae, cap. CLXXIX. Dass Thomas von Aquin auch
an eine bestimmte Lokalisation des Himmels glaubte, wenngleich er weniger Nach-
druck darauf gelegt zu haben scheint, bezweifle ich nicht. Konrad von Megen-
berg, der genau 100 Jahre nach ihm starb (1374), ein sehr gelehrter und frommer
Mann, Kanonikus am Regensburger Dom und Verfasser der allerersten Naturge-
schichte in deutscher Sprache, sagt ausdrücklich in dem astronomischen Teil seines
Werkes: »Der erste und oberste Himmel (es giebt ihrer zehn) steht still und
dreht sich nicht. Er heisst auf lateinisch Empyreum, zu deutsch Feuerhimmel,
weil er in übernatürlich hellem Schein glüht und leuchtet. In ihm wohnt
Gott mit seinen Auserwählten
« (Das Buch der Natur, II, 1). Die neue
Astronomie, fussend auf der neuen Geographie, vernichtete also geradezu die »Woh-
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[770/0249] Die Entstehung einer neuen Welt. den geographischen besonders sichtbar. Aus Gier nach Besitz, zugleich aus religiösem Fanatismus hatten die Staaten Europa’s sich des geo- graphischen Entdeckungswerkes angenommen; das Hauptergebnis für den Menschengeist war aber zunächst die Feststellung, dass die Erde rund ist. Die Bedeutung dieser Entdeckung ist einfach unermessbar. Zwar war die sphärische Gestalt der Erde schon längst von den Pytha- goreern vermutet und von gelehrten Männern zu allen Zeiten vielfach be- hauptet worden; doch ist es ein gewaltig weiter Schritt von derartigen theoretischen Erwägungen bis zu einem unwiderleglichen, konkreten, augenfälligen Nachweis. Dass die Kirche nicht wirklich an die Kugel- gestalt der Erde glaubte, geht zur Genüge aus jenen Schenkungsbullen des Jahres 1493 hervor (S. 675): denn »westlich« von einem jeden Breiten- grade liegt die ganze Erde. Dass Augustinus die Annahme von Anti- poden für absurd und schriftwidrig hielt, habe ich schon früher angeführt (S. 538). Am Schlusse des 15. Jahrhunderts galt für die Gläubigen noch immer die Geographie des Mönches Cosmas Indicopleustes als massgebend, welcher die Ansicht der griechischen Gelehrten für Gottes- lästerung erklärt und die Welt sich als ein flaches Rechteck denkt, das die vier Wände des Himmels einschliessen; oberhalb der gewölbten Sternendecke wohnen Gott und die Engel. 1) Mag man auch heute über derartige Vorstellungen lächeln, sie waren und sind durch die Kirchenlehre geboten. So warnt z. B. Thomas von Aquin bezüglich der Hölle ausdrücklich vor der Tendenz, sie nur geistig aufzufassen; im Gegenteil, die Menschen würden dort poenas corporeas, leibliche Strafen, leiden, und die Flammen der Hölle seien secundum litteram intelligenda, d. h. buchstäblich zu verstehen, was doch die Vorstellung eines Ortes — nämlich »unterhalb der Erde« — bedingt. 2) Ein 1) Vergl. Fiske: Discovery of America, ch. III. 2) Compendium Theologiae, cap. CLXXIX. Dass Thomas von Aquin auch an eine bestimmte Lokalisation des Himmels glaubte, wenngleich er weniger Nach- druck darauf gelegt zu haben scheint, bezweifle ich nicht. Konrad von Megen- berg, der genau 100 Jahre nach ihm starb (1374), ein sehr gelehrter und frommer Mann, Kanonikus am Regensburger Dom und Verfasser der allerersten Naturge- schichte in deutscher Sprache, sagt ausdrücklich in dem astronomischen Teil seines Werkes: »Der erste und oberste Himmel (es giebt ihrer zehn) steht still und dreht sich nicht. Er heisst auf lateinisch Empyreum, zu deutsch Feuerhimmel, weil er in übernatürlich hellem Schein glüht und leuchtet. In ihm wohnt Gott mit seinen Auserwählten« (Das Buch der Natur, II, 1). Die neue Astronomie, fussend auf der neuen Geographie, vernichtete also geradezu die »Woh- nung Gottes«, an die bis dahin selbst gelehrte und freisinnige Männer geglaubt

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 770. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/249>, abgerufen am 26.04.2024.