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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
liegt das Grundprinzip aller germanischen Wissenschaft ausgesprochen.
Ruhe ist zwar nicht Bewegung, sondern ihr konträrer Gegensatz, eben-
sowenig sind gleiche Grössen ungleich; lieber als zu solchen Annahmen
zu greifen, hätte der Hellene sich den Schädel an der Wand zer-
schlagen; doch der Germane hat hierin (völlig unbewusst) eine tiefere
Einsicht in das Wesen des Verhältnisses zwischen dem Menschen und
der Natur bekundet. Erkennen wollte er, und zwar nicht allein das
rein und ausschliesslich Menschliche (wie ein Homer und ein Euklid),
sondern im Gegenteil vor allem die aussermenschliche Natur;1) und da
hat ihn der leidenschaftliche Wissensdurst -- d. h. also das Vorwiegen
der Sehnsucht zu lernen, nicht des Bedürfnisses zu gestalten -- Wege
finden lassen, die ihn viel, viel weiter geführt haben als irgend einen
seiner Vorgänger. Und diese Wege sind, wie ich gleich zu Beginn
dieser Ausführungen bemerkte, die eines klugen Anpassens. Die Er-
fahrung -- d. h. genaue, minutiöse, unermüdliche Beobachtung --
giebt das breite, felsenfeste Fundament germanischer Wissenschaft ab,
gleichviel ob sie Philologie oder Chemie oder was sonst betreffe: die
Befähigung zur Beobachtung, sowie die Leidenschaftlichkeit, Aufopferung
und Ehrlichkeit, mit der sie betrieben wird, sind ein wesentliches
Charakteristikum unserer Rasse. Die Beobachtung ist das Gewissen
germanischer Wissenschaft. Nicht allein der Naturforscher von Fach,
nicht allein der gelehrte Sprachenkenner und Jurist erforschen auf dem
Wege der peinlich aufmerksamen Wahrnehmung, auch der Franziskaner
Roger Bacon giebt sein gesamtes Vermögen auf Beobachtungen aus,
Leonardo da Vinci predigt Naturstudium, Beobachtung, Experiment und
widmet Jahre seines Lebens der genauen Aufzeichnung der unsichtbaren
inneren Anatomie (speziell des Gefässsystemes) des Menschenkörpers,
Voltaire ist Astronom, Rousseau Botaniker, Hume giebt seinem vor
160 Jahren erschienenen Hauptwerke den Untertitel "Versuch, die Experi-
mentalmethode in die Philosophie einzuführen", Goethe's bewunderungs-
würdig scharfe Beobachtungsgabe ist allbekannt und Schiller beginnt
seine Lebensbahn mit Betrachtungen über "die Empfindlichkeit der
Nerven und die Reizbarkeit des Muskels" und fordert uns auf, den
"Mechanismus des Körpers" fleissiger zu studieren, wollen wir die

Wissen". Die schärfste Kritik unserer höheren Mathematik findet man in Berkeley's
The Analyst und A Defence of free-thinking in Mathematics.
1) Das war so sehr sein Bestreben, dass er, sobald sein Studium dem Menschen
selbst galt (siehe Locke), das Mögliche that, um sich zu "objektivieren", d. h. um
aus der eigenen Haut hinauszukriechen und sich als ein Stück "Natur" zu erblicken.

Die Entstehung einer neuen Welt.
liegt das Grundprinzip aller germanischen Wissenschaft ausgesprochen.
Ruhe ist zwar nicht Bewegung, sondern ihr konträrer Gegensatz, eben-
sowenig sind gleiche Grössen ungleich; lieber als zu solchen Annahmen
zu greifen, hätte der Hellene sich den Schädel an der Wand zer-
schlagen; doch der Germane hat hierin (völlig unbewusst) eine tiefere
Einsicht in das Wesen des Verhältnisses zwischen dem Menschen und
der Natur bekundet. Erkennen wollte er, und zwar nicht allein das
rein und ausschliesslich Menschliche (wie ein Homer und ein Euklid),
sondern im Gegenteil vor allem die aussermenschliche Natur;1) und da
hat ihn der leidenschaftliche Wissensdurst — d. h. also das Vorwiegen
der Sehnsucht zu lernen, nicht des Bedürfnisses zu gestalten — Wege
finden lassen, die ihn viel, viel weiter geführt haben als irgend einen
seiner Vorgänger. Und diese Wege sind, wie ich gleich zu Beginn
dieser Ausführungen bemerkte, die eines klugen Anpassens. Die Er-
fahrung — d. h. genaue, minutiöse, unermüdliche Beobachtung —
giebt das breite, felsenfeste Fundament germanischer Wissenschaft ab,
gleichviel ob sie Philologie oder Chemie oder was sonst betreffe: die
Befähigung zur Beobachtung, sowie die Leidenschaftlichkeit, Aufopferung
und Ehrlichkeit, mit der sie betrieben wird, sind ein wesentliches
Charakteristikum unserer Rasse. Die Beobachtung ist das Gewissen
germanischer Wissenschaft. Nicht allein der Naturforscher von Fach,
nicht allein der gelehrte Sprachenkenner und Jurist erforschen auf dem
Wege der peinlich aufmerksamen Wahrnehmung, auch der Franziskaner
Roger Bacon giebt sein gesamtes Vermögen auf Beobachtungen aus,
Leonardo da Vinci predigt Naturstudium, Beobachtung, Experiment und
widmet Jahre seines Lebens der genauen Aufzeichnung der unsichtbaren
inneren Anatomie (speziell des Gefässsystemes) des Menschenkörpers,
Voltaire ist Astronom, Rousseau Botaniker, Hume giebt seinem vor
160 Jahren erschienenen Hauptwerke den Untertitel »Versuch, die Experi-
mentalmethode in die Philosophie einzuführen«, Goethe’s bewunderungs-
würdig scharfe Beobachtungsgabe ist allbekannt und Schiller beginnt
seine Lebensbahn mit Betrachtungen über »die Empfindlichkeit der
Nerven und die Reizbarkeit des Muskels« und fordert uns auf, den
»Mechanismus des Körpers« fleissiger zu studieren, wollen wir die

Wissen«. Die schärfste Kritik unserer höheren Mathematik findet man in Berkeley’s
The Analyst und A Defence of free-thinking in Mathematics.
1) Das war so sehr sein Bestreben, dass er, sobald sein Studium dem Menschen
selbst galt (siehe Locke), das Mögliche that, um sich zu »objektivieren«, d. h. um
aus der eigenen Haut hinauszukriechen und sich als ein Stück »Natur« zu erblicken.
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[786/0265] Die Entstehung einer neuen Welt. liegt das Grundprinzip aller germanischen Wissenschaft ausgesprochen. Ruhe ist zwar nicht Bewegung, sondern ihr konträrer Gegensatz, eben- sowenig sind gleiche Grössen ungleich; lieber als zu solchen Annahmen zu greifen, hätte der Hellene sich den Schädel an der Wand zer- schlagen; doch der Germane hat hierin (völlig unbewusst) eine tiefere Einsicht in das Wesen des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Natur bekundet. Erkennen wollte er, und zwar nicht allein das rein und ausschliesslich Menschliche (wie ein Homer und ein Euklid), sondern im Gegenteil vor allem die aussermenschliche Natur; 1) und da hat ihn der leidenschaftliche Wissensdurst — d. h. also das Vorwiegen der Sehnsucht zu lernen, nicht des Bedürfnisses zu gestalten — Wege finden lassen, die ihn viel, viel weiter geführt haben als irgend einen seiner Vorgänger. Und diese Wege sind, wie ich gleich zu Beginn dieser Ausführungen bemerkte, die eines klugen Anpassens. Die Er- fahrung — d. h. genaue, minutiöse, unermüdliche Beobachtung — giebt das breite, felsenfeste Fundament germanischer Wissenschaft ab, gleichviel ob sie Philologie oder Chemie oder was sonst betreffe: die Befähigung zur Beobachtung, sowie die Leidenschaftlichkeit, Aufopferung und Ehrlichkeit, mit der sie betrieben wird, sind ein wesentliches Charakteristikum unserer Rasse. Die Beobachtung ist das Gewissen germanischer Wissenschaft. Nicht allein der Naturforscher von Fach, nicht allein der gelehrte Sprachenkenner und Jurist erforschen auf dem Wege der peinlich aufmerksamen Wahrnehmung, auch der Franziskaner Roger Bacon giebt sein gesamtes Vermögen auf Beobachtungen aus, Leonardo da Vinci predigt Naturstudium, Beobachtung, Experiment und widmet Jahre seines Lebens der genauen Aufzeichnung der unsichtbaren inneren Anatomie (speziell des Gefässsystemes) des Menschenkörpers, Voltaire ist Astronom, Rousseau Botaniker, Hume giebt seinem vor 160 Jahren erschienenen Hauptwerke den Untertitel »Versuch, die Experi- mentalmethode in die Philosophie einzuführen«, Goethe’s bewunderungs- würdig scharfe Beobachtungsgabe ist allbekannt und Schiller beginnt seine Lebensbahn mit Betrachtungen über »die Empfindlichkeit der Nerven und die Reizbarkeit des Muskels« und fordert uns auf, den »Mechanismus des Körpers« fleissiger zu studieren, wollen wir die 3) 1) Das war so sehr sein Bestreben, dass er, sobald sein Studium dem Menschen selbst galt (siehe Locke), das Mögliche that, um sich zu »objektivieren«, d. h. um aus der eigenen Haut hinauszukriechen und sich als ein Stück »Natur« zu erblicken. 3) Wissen«. Die schärfste Kritik unserer höheren Mathematik findet man in Berkeley’s The Analyst und A Defence of free-thinking in Mathematics.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 786. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/265>, abgerufen am 04.05.2024.