Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
mangelt (im Gegensatz zu den Römern) die Bindekraft in einem be-
dauerlichen Masse: die hervorragend energischen Individuen erblicken
nur sich und begreifen nicht, dass ein aus verwandtschaftlicher Um-
gebung losgerissener Mensch kein Mensch mehr ist; sie verraten den
angestammten Verband und richten dadurch sich und ihr Vaterland
zu Grunde. Im Handel mangelt aus den angegebenen Gründen dem
Römer die Initiative, jene voranleuchtende Fackel des bahnbrechenden
Einzelnen, dem Hellenen die Redlichkeit, d. h. jenes öffentliche, Alle
verbindende und für Alle verbindliche Gewissen, welches später in dem
"rechten Kaufmannsgut" des aufblühenden deutschen Gewerbes einen
ewig verehrungswürdigen Ausdruck fand. Hier übrigens, in dem
"rechten Kaufmannsgut", halten wir schon ein treffliches Beispiel
der Wechselwirkungen germanischen Charakters auf wirtschaftliche
Gestaltungen.

Innungen und
Kapitalisten.

In hundert Büchern wird der Leser das Leben und Wirken der
Innungen zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert (etwa) geschildert
finden; es ist das prächtigste Muster geeinten Wirkens: Einer für Alle,
Alle für Einen. Sehen wir nun, wie in diesen Verbänden Alles genau
bestimmt und von dem Vorstand der Innung, sowie auch von besonderen
dazu eingesetzten Kontrollbehörden, vom Stadtmagistrat u. s. w. beauf-
sichtigt wird, so dass nicht allein die Art und die Ausführung einer
jeglichen Arbeit in allen Einzelheiten, sondern auch die Maximalmenge
der Tagesleistung festgestellt ist und nicht überschritten werden darf, weil
man nämlich fürchtete, der Arbeiter möchte aus Geldgier zu schnell und
darum schlecht arbeiten, so sind wir geneigt, mit den meisten Autoren
entsetzt auszurufen: dem Einzelnen blieb ja keine Spur Initiative, keine
Spur Freiheit! Und doch ist dieses Urteil einseitig bis zur direkten Ver-
kennung der historischen Wahrheit. Denn gerade durch das Zusammen-
treten vieler Einzelnen zu einer festgefügten, einheitlichen Vielheit hat
der Germane die durch den Kontakt mit dem römischen Imperium
eingebüsste bürgerliche Freiheit wiedererworben. Ohne den angeborenen
Instinkt zur Kooperation wären die Germanen ebensolche Sklaven
geblieben wie die Ägypter, die Karthager, die Byzantiner, oder wie
die Bewohner des Khalifats. Das vereinzelte Individuum ist einem
chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird
aufgesogen, vernichtet. Dadurch, dass der Einzelne freiwillig ein
Gesetz annahm und sich ihm unbedingt fügte, erwarb er sich ein
sicheres und anständiges Leben, ja, ein anständigeres Leben als das
unserer heutigen Arbeiter, und hiermit zugleich die grundlegende Mög-

Die Entstehung einer neuen Welt.
mangelt (im Gegensatz zu den Römern) die Bindekraft in einem be-
dauerlichen Masse: die hervorragend energischen Individuen erblicken
nur sich und begreifen nicht, dass ein aus verwandtschaftlicher Um-
gebung losgerissener Mensch kein Mensch mehr ist; sie verraten den
angestammten Verband und richten dadurch sich und ihr Vaterland
zu Grunde. Im Handel mangelt aus den angegebenen Gründen dem
Römer die Initiative, jene voranleuchtende Fackel des bahnbrechenden
Einzelnen, dem Hellenen die Redlichkeit, d. h. jenes öffentliche, Alle
verbindende und für Alle verbindliche Gewissen, welches später in dem
»rechten Kaufmannsgut« des aufblühenden deutschen Gewerbes einen
ewig verehrungswürdigen Ausdruck fand. Hier übrigens, in dem
»rechten Kaufmannsgut«, halten wir schon ein treffliches Beispiel
der Wechselwirkungen germanischen Charakters auf wirtschaftliche
Gestaltungen.

Innungen und
Kapitalisten.

In hundert Büchern wird der Leser das Leben und Wirken der
Innungen zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert (etwa) geschildert
finden; es ist das prächtigste Muster geeinten Wirkens: Einer für Alle,
Alle für Einen. Sehen wir nun, wie in diesen Verbänden Alles genau
bestimmt und von dem Vorstand der Innung, sowie auch von besonderen
dazu eingesetzten Kontrollbehörden, vom Stadtmagistrat u. s. w. beauf-
sichtigt wird, so dass nicht allein die Art und die Ausführung einer
jeglichen Arbeit in allen Einzelheiten, sondern auch die Maximalmenge
der Tagesleistung festgestellt ist und nicht überschritten werden darf, weil
man nämlich fürchtete, der Arbeiter möchte aus Geldgier zu schnell und
darum schlecht arbeiten, so sind wir geneigt, mit den meisten Autoren
entsetzt auszurufen: dem Einzelnen blieb ja keine Spur Initiative, keine
Spur Freiheit! Und doch ist dieses Urteil einseitig bis zur direkten Ver-
kennung der historischen Wahrheit. Denn gerade durch das Zusammen-
treten vieler Einzelnen zu einer festgefügten, einheitlichen Vielheit hat
der Germane die durch den Kontakt mit dem römischen Imperium
eingebüsste bürgerliche Freiheit wiedererworben. Ohne den angeborenen
Instinkt zur Kooperation wären die Germanen ebensolche Sklaven
geblieben wie die Ägypter, die Karthager, die Byzantiner, oder wie
die Bewohner des Khalifats. Das vereinzelte Individuum ist einem
chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird
aufgesogen, vernichtet. Dadurch, dass der Einzelne freiwillig ein
Gesetz annahm und sich ihm unbedingt fügte, erwarb er sich ein
sicheres und anständiges Leben, ja, ein anständigeres Leben als das
unserer heutigen Arbeiter, und hiermit zugleich die grundlegende Mög-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0303" n="824"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
mangelt (im Gegensatz zu den Römern) die Bindekraft in einem be-<lb/>
dauerlichen Masse: die hervorragend energischen Individuen erblicken<lb/>
nur sich und begreifen nicht, dass ein aus verwandtschaftlicher Um-<lb/>
gebung losgerissener Mensch kein Mensch mehr ist; sie verraten den<lb/>
angestammten Verband und richten dadurch sich und ihr Vaterland<lb/>
zu Grunde. Im Handel mangelt aus den angegebenen Gründen dem<lb/>
Römer die Initiative, jene voranleuchtende Fackel des bahnbrechenden<lb/>
Einzelnen, dem Hellenen die Redlichkeit, d. h. jenes öffentliche, Alle<lb/>
verbindende und für Alle verbindliche Gewissen, welches später in dem<lb/>
»rechten Kaufmannsgut« des aufblühenden deutschen Gewerbes einen<lb/>
ewig verehrungswürdigen Ausdruck fand. Hier übrigens, in dem<lb/>
»rechten Kaufmannsgut«, halten wir schon ein treffliches Beispiel<lb/>
der Wechselwirkungen germanischen Charakters auf wirtschaftliche<lb/>
Gestaltungen.</p><lb/>
              <note place="left">Innungen und<lb/>
Kapitalisten.</note>
              <p>In hundert Büchern wird der Leser das Leben und Wirken der<lb/>
Innungen zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert (etwa) geschildert<lb/>
finden; es ist das prächtigste Muster geeinten Wirkens: Einer für Alle,<lb/>
Alle für Einen. Sehen wir nun, wie in diesen Verbänden Alles genau<lb/>
bestimmt und von dem Vorstand der Innung, sowie auch von besonderen<lb/>
dazu eingesetzten Kontrollbehörden, vom Stadtmagistrat u. s. w. beauf-<lb/>
sichtigt wird, so dass nicht allein die Art und die Ausführung einer<lb/>
jeglichen Arbeit in allen Einzelheiten, sondern auch die Maximalmenge<lb/>
der Tagesleistung festgestellt ist und nicht überschritten werden darf, weil<lb/>
man nämlich fürchtete, der Arbeiter möchte aus Geldgier zu schnell und<lb/>
darum schlecht arbeiten, so sind wir geneigt, mit den meisten Autoren<lb/>
entsetzt auszurufen: dem Einzelnen blieb ja keine Spur Initiative, keine<lb/>
Spur Freiheit! Und doch ist dieses Urteil einseitig bis zur direkten Ver-<lb/>
kennung der historischen Wahrheit. Denn gerade durch das Zusammen-<lb/>
treten vieler Einzelnen zu einer festgefügten, einheitlichen Vielheit hat<lb/>
der Germane die durch den Kontakt mit dem römischen Imperium<lb/>
eingebüsste bürgerliche Freiheit wiedererworben. Ohne den angeborenen<lb/>
Instinkt zur Kooperation wären die Germanen ebensolche Sklaven<lb/>
geblieben wie die Ägypter, die Karthager, die Byzantiner, oder wie<lb/>
die Bewohner des Khalifats. Das vereinzelte Individuum ist einem<lb/>
chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird<lb/>
aufgesogen, vernichtet. Dadurch, dass der Einzelne freiwillig ein<lb/>
Gesetz annahm und sich ihm unbedingt fügte, erwarb er sich ein<lb/>
sicheres und anständiges Leben, ja, ein anständigeres Leben als das<lb/>
unserer heutigen Arbeiter, und hiermit zugleich die grundlegende <hi rendition="#g">Mög-</hi><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[824/0303] Die Entstehung einer neuen Welt. mangelt (im Gegensatz zu den Römern) die Bindekraft in einem be- dauerlichen Masse: die hervorragend energischen Individuen erblicken nur sich und begreifen nicht, dass ein aus verwandtschaftlicher Um- gebung losgerissener Mensch kein Mensch mehr ist; sie verraten den angestammten Verband und richten dadurch sich und ihr Vaterland zu Grunde. Im Handel mangelt aus den angegebenen Gründen dem Römer die Initiative, jene voranleuchtende Fackel des bahnbrechenden Einzelnen, dem Hellenen die Redlichkeit, d. h. jenes öffentliche, Alle verbindende und für Alle verbindliche Gewissen, welches später in dem »rechten Kaufmannsgut« des aufblühenden deutschen Gewerbes einen ewig verehrungswürdigen Ausdruck fand. Hier übrigens, in dem »rechten Kaufmannsgut«, halten wir schon ein treffliches Beispiel der Wechselwirkungen germanischen Charakters auf wirtschaftliche Gestaltungen. In hundert Büchern wird der Leser das Leben und Wirken der Innungen zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert (etwa) geschildert finden; es ist das prächtigste Muster geeinten Wirkens: Einer für Alle, Alle für Einen. Sehen wir nun, wie in diesen Verbänden Alles genau bestimmt und von dem Vorstand der Innung, sowie auch von besonderen dazu eingesetzten Kontrollbehörden, vom Stadtmagistrat u. s. w. beauf- sichtigt wird, so dass nicht allein die Art und die Ausführung einer jeglichen Arbeit in allen Einzelheiten, sondern auch die Maximalmenge der Tagesleistung festgestellt ist und nicht überschritten werden darf, weil man nämlich fürchtete, der Arbeiter möchte aus Geldgier zu schnell und darum schlecht arbeiten, so sind wir geneigt, mit den meisten Autoren entsetzt auszurufen: dem Einzelnen blieb ja keine Spur Initiative, keine Spur Freiheit! Und doch ist dieses Urteil einseitig bis zur direkten Ver- kennung der historischen Wahrheit. Denn gerade durch das Zusammen- treten vieler Einzelnen zu einer festgefügten, einheitlichen Vielheit hat der Germane die durch den Kontakt mit dem römischen Imperium eingebüsste bürgerliche Freiheit wiedererworben. Ohne den angeborenen Instinkt zur Kooperation wären die Germanen ebensolche Sklaven geblieben wie die Ägypter, die Karthager, die Byzantiner, oder wie die Bewohner des Khalifats. Das vereinzelte Individuum ist einem chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird aufgesogen, vernichtet. Dadurch, dass der Einzelne freiwillig ein Gesetz annahm und sich ihm unbedingt fügte, erwarb er sich ein sicheres und anständiges Leben, ja, ein anständigeres Leben als das unserer heutigen Arbeiter, und hiermit zugleich die grundlegende Mög-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/303
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 824. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/303>, abgerufen am 27.04.2024.